Leseprobe aus: Weihnachten steht vor der Tür
2. Dezember
Eigentlich fing alles ganz harmlos an.
Ich lag auf meinem Platz auf der Fensterbank. Es war ekliges, schmieriges
Nassepfotenwetter. Wässriger Schnee fiel aus dem grauen Himmel und drückte
den Rauch aus den Schornsteinen nieder. Nur noch ein paar Grashalme guckten
aus dem Matsch hervor.
Die Körner, die Ellen am Morgen ausgestreut hatte, waren längst zugedeckt.
Ich beobachtete das zänkische Vogelvolk, das sich kalte Füße und Schnäbel
holte, und freute mich diebisch darüber.
Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber Ellen vergöttert Vögel. Meine
Ellen! Vögel!
Man darf ihr das nicht übelnehmen. Man muss Nachsicht üben. Sie ist erst
neun und kennt den wahren Charakter dieser Fiederlinge noch nicht. Ganz
anders als der Mann, ihr Vater. Als Ellen sich zum Geburtstag einen
Wellensittich wünschte, hat er es rundweg abgelehnt. Das nenne ich Weisheit.
Ein schnatternder, zeternder, flügelschlagender Wellensittich in unserem
Haus? Igitt!
Ich sah diesen Schreihälsen also zu, wie sie sich um den einen oder anderen
Sonnenblumenkern balgten, und schnurrte so vor mich hin, da sagte der Mann
plötzlich: „Weihnachten steht vor der Tür."
Es gibt zwei Dinge, die ich über alles liebe: Sardinen in Öl und Besuch.
Rasch sprang ich von der Fensterbank und flitzte zur Haustür, damit mir
keines der Kinder zuvorkommen konnte. Die mögen zwar keine Sardinen, aber
Besuch lieben sie auch, und vor allem Fränzchen ist unheimlich schnell.
Weihnachten, über den sie seit Tagen unentwegt redeten - endlich sollte ich
ihn kennenlernen!
Etwas war komisch, daß ich nämlich die Klingel überhaupt nicht gehört hatte.
Besucher läuten, wenn sie ins Haus wollen. Und wenn die Klingel kaputt ist,
klopfen sie an. Nichts davon. Kein Läuten, kein Klopfen. Und es machte auch
niemand Anstalten, die Tür zu öffnen. Sogar Fränzchen blieb sitzen.
Na gut, hab ich gedacht. Vielleicht steht er einfach so vor der Tür, dieser
Weihnachten, vielleicht will er gar nicht rein. Vielleicht ist er aber auch
ein Vertreter, der Zeitungen verkaufen will, einen Staubsauger oder ein ganz
besonderes Katzenfutter. Vielleicht sammelt er gerade all seine
Überredungskraft, damit er nicht sofort wieder weggeschickt wird. Aber warum
sprachen sie dann seit Tagen über nichts anderes mehr?
Kein Problem für mich. Durch den Flur, durch die Küche, ein Satz auf die
Klinke, und dann in die Vorratskammer. Von da aus hat man die Haustür gut im
Blick. Rauf auf den Tisch und von da aus auf die Fensterbank.
Nichts. Niemand. Auch auf der Zufahrt zur Garage nicht.
Ich hab dann kurz mal von der Buttercremetorte gekostet, die auf dem Tisch
stand. Glücklicherweise hatte Fränzchen schon vor mir davon probiert und
vergessen, den Deckel wieder drüberzustülpen. Rasch das Maul saubergeleckt
und ganz harmlos wieder ins Wohnzimmer zurück.
Daß ich Türen aufmachen kann, wissen sie nicht. Meistens gerät Fränzchen in
Verdacht. Ich hab kein schlechtes Gewissen deswegen. Es ist der gerechte
Ausgleich für all die Vasen, Schalen und Teller, die er kaputtgemacht und
von denen er später behauptet hat, ich hätte sie runtergeworfen.
Weihnachten steht vor der Tür?
Ich hab mich dem Mann vor die Füße
gesetzt und ihn lange angeguckt, um zu sehen, ob er gelogen hat. Ich hab's
nicht erkennen können. Er hat mir freundlich die Hand auf den Kopf gelegt.
"Wieso bist du nur so unruhig heute?"
Ich zurück zu meinem Platz. Hab mich zusammengerollt und über die
Unzuverlässigkeit der Menschen und ihrer Worte nachgedacht.
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