Prolog
Sie hörte das feine, spitze
Geräusch schon, noch bevor es ihre Ohren richtig erreicht hatte, und ihr
wurde vor Entsetzen kalt.
Metall traf auf Metall.
Während sie gehetzt nach einem Versteck Ausschau hielt, presste sie die
Hände vor den Mund, um sich bloß mit keinem Laut zu verraten. Als wäre das
überhaupt noch von Bedeutung.
Wieder wurde ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt, näher diesmal und
überaus deutlich.
Wie laut ihr Atem in der Stille war! Sie lief ziellos im Zimmer umher,
und ihre Angst wuchs mit jedem Schritt. Kein Versteck! Nirgends! Der
Schrank, das Bett, die Vorhänge, mehr Möglichkeiten gab es nicht. Vor
Anstrengung fing sie an zu keuchen.
Lieber Gott ...
Sie warf sich auf den Boden, kroch unter das Bett und robbte gleich
wieder darunter hervor. Zog verzweifelt die Schranktüren auf und machte sie
wieder zu. Tränen ließen die Umrisse der Gegenstände vor ihren Augen
verschwimmen.
Sie saß in der Falle.
Jetzt konnte sie die Schritte hören. Viele. Und sie waren unterwegs zu
ihr.
Langsam wich sie zum Fenster zurück, öffnete es mit bebenden Händen und
warf einen Blick in die Tiefe. Ein Schweißtropfen rann an ihrer Wirbelsäule
hinunter.
Vor ihrer Tür machten die Schritte Halt.
Mit allerletzter Kraft schwang sie sich auf die Fensterbank, ohne die
Klinke aus den Augen zu lassen. Lieber Gott, dachte sie. Gib mir den Mut zu
springen ...
Dann hörte sie den Schlüssel im Schloss.
1.
Schmuddelbuch, Montag, 10. November
Gestern wurde aus dem Fühlinger See die Leiche eines zweiundzwanzigjährigen
Mannes geborgen. Die Polizei geht von einem Fremdverschulden aus, machte
aber, um die Ermittlungen nicht zu gefährden, keine weiteren Angaben. Dies
wäre seit Mai bereits das vierte Gewaltverbrechen in Köln. Einen
Zusammenhang der Todesfälle schließt die Polizei nach dem derzeitigen
Kenntnisstand jedoch aus. (Kölner Anzeiger)
„Warum nicht, Greg?“
„Dafür gibt es tausend Gründe, Schätzchen.“
„Nenn mir drei!“
„Also gut. Erstens: Ich will nicht. Zweitens: Ich will nicht. Drittens:
Ich will nicht. Und jetzt lass mich arbeiten.“
„Das ist nicht fair, Greg!“
Gregory Chaucer stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und vergrub die
Finger im Haar. Dann hob er den Kopf und bedachte Romy mit einem milden
Blick. „Seit wann, Mädchen, ist das Leben fair?“
„Ich weiß, dass ich recht habe, Greg.“
„Das ist ja das Schlimme. Du hast meistens recht.“
„Also gibst du mir grünes Licht?“
„Nein!“ Gregory Chaucer beugte sich vor und griff nach dem Telefon.
„Sonst noch was?“
Er konnte das gut, jemanden, der ihm auf die Nerven fiel, mit einer
beleidigenden Beiläufigkeit abservieren, und Romy hatte das schon oft am
eigenen Leib zu spüren bekommen. Er guckte einen dann stur über den Rand
seiner Lesebrille hinweg an, wobei sich seine Stirn in angestrengte Falten
legte, was seinem Gesicht einen gleichermaßen erstaunten wie abwartenden
Ausdruck verlieh. Diesmal, hatte Romy sich vorgenommen, würde sie sich davon
nicht beeindrucken lassen.
„Und wenn ich dir verspreche, vorsichtig zu sein?“
„Das versprichst du mir doch dauernd.“
„Bitte, Greg. Du weißt, dass du dich auf meine Nase verlassen kannst.“
Sie rührte sich nicht von der Stelle. „Vier Tote in einem halben Jahr, Greg.
Du willst mir doch nicht erzählen, dass nichts dahintersteckt?“
„Ich will dir gar nichts erzählen, Romy. Ich will meine Ruhe haben,
nichts weiter. Renitente Volontärinnen sind das Letzte, was ich im
Augenblick brauche.“
„Renitent? Das kränkt mich jetzt aber wirklich, Greg.“
Gregory Chaucer stöhnte auf.
„Setz dich, Romy.“
Er hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als Romy schon auf dem Stuhl
vor seinem Schreibtisch saß und ihn mit großen Augen anschaute.
„Also. Noch einmal. Was hast du vor?“
„Bloß ein bisschen herumstochern, Greg. Vier Tote! Das könnte die
Geschichte meines Lebens werden.“
„Die Geschichte deines Lebens ...“ Gregory Chaucer konnte sich ein
Lächeln nicht verkneifen. „Wie alt bist du? Fünfzig?“
Romy beschloss, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. „Gerade
achtzehn geworden. Aber du hast mir immer gesagt, dass man zugreifen muss,
wenn man eine Geschichte vor sich hat.“
„Wenn.“
„Das ist eine Geschichte, Greg. Ich hab das im Gefühl.“
Gregory Chaucer hatte Romy schon so oft gepredigt, ein Journalist ohne
den richtigen Riecher sei keinen Pfifferling wert. Genau da versuchte Romy
ihn zu packen.
„Es geht um Mord, Romy, das ist ein verdammt heißes Eisen ...“
„... das man schmieden muss, solange es heiß ist ...“
„Du hast keine Erfahrung. Nimm wenigstens einen Kollegen mit.“
„Es ist meine Geschichte, Greg. Ich will die nicht teilen.“
Gregory Chaucer, deutsch-irischer Abstammung, seit dreißig Jahren im
Zeitungsgeschäft und seit zehn Jahren Verleger und Chefredakteur des
links-alternativen KölnJournals, hatte vier Tugenden auf sein Banner
geschrieben: den richtigen Riecher, Neugier, Biss und eine ordentliche
Portion Egoismus. Er selbst hatte sich mit mutigen, kompromisslosen Artikeln
an die Spitze geschrieben und verlangte normalerweise auch von anderen, dass
sie Zivilcourage und Ehrgeiz zeigten.
„Tut mir leid, Romy. Ich kann dir nicht ...“
Sie stand auf und sah traurig auf ihn hinunter. „Okay, Greg.“
„Du wirst es ohne meine Erlaubnis tun“, sagte er.
„Was?“
„Du weißt genau, was ich meine.“
„Du lässt mir ja keine Wahl, Greg.“
Er seufzte. „Hau schon ab! Und pass auf dich auf!“
Das brauchte er ihr nicht zweimal zu sagen. Sie warf ihm eine Kusshand zu
und war schon aus seinem Büro verschwunden.
*
Das Alibi war rappelvoll. Romy
erkannte das eine oder andere Gesicht, aber sie hatte heute keine Lust, sich
zu irgendjemandem an den Tisch zu setzen. Ganz hinten, bei der Garderobe,
war noch ein Zweiertisch frei. Romy nahm ihn, obwohl sie es hasste, wenn die
Ärmel fremder Mäntel und Jacken ihren Nacken streiften, sobald sie sich
bewegte. Zudem war dies die absolut finsterste Ecke in diesem ohnehin sehr
düsteren Café.
Aber sie würde halbwegs ungestört nachdenken können. Das gelang ihr in
der Redaktion nur selten. Da war ein ständiges Kommen und Gehen, ein
Klingeln von Telefonen und ein Summen von Stimmen. Es gab keine ruhige
Nische.
Irgendwann hatte Romy das Alibi für sich entdeckt, ein Bistro, das von
einem schwulen Paar geleitet wurde, Giulio und Glen, die beide behaupteten,
ihren ursprünglichen Taufnamen zu tragen und nicht auf Wohlklang geschielt
zu haben. Doch das behaupteten sie von ihrer Haarfarbe auch, obwohl jeder
sehen konnte, dass Siegfried und Roy dafür Pate gestanden hatten.
Man konnte im Alibi stundenlang vor einem einzigen Cappuccino sitzen,
ohne zum Verzehr genötigt zu werden. Der Boden war schwarz lackiert, an den
blutrot gestrichenen Wänden hingen verrückte Bilder, die zum Verkauf
angeboten wurden, nackte, verdrehte, signalfarbige Leiber, in deren Haaren
Vögel nisteten, aus deren Wimpern Blätter sprossen und zwischen deren Zehen
Käfer und Hummeln hausten.
An einer Wand standen Bücherregale, vollgestopft mit zerlesenen,
teilweise arg zerfledderten Kriminalromanen, die dem Alibi seinen Namen
gegeben hatten. Es war erlaubt, sogar erwünscht, sich daraus zu bedienen.
Man konnte ein Buch mit nach Hause nehmen, um es zu Ende zu lesen, und
später zurückbringen, durfte es jedoch auch behalten, solange man es durch
ein anderes ersetzte.
Die langbeinigen Mädchen, die hier bedienten, blieben nie lange. Kaum
hatte man sich an die eine gewöhnt, wurde sie auch schon von einer anderen
abgelöst. Es waren Paradiesvögel, die sich für eine Weile niederließen, um
dann in wärmere Gefilde weiterzufliegen.
Romy bestellte sich einen Cappuccino und ein Mineralwasser und packte
ihren Laptop aus.
Gleich am ersten Tag bei der Zeitung hatte sie damit angefangen, regelmäßig
ihre Gedanken und Beobachtungen zu notieren. Sie verfasste Texte zu allen
möglichen Themen, manchmal ausgefeilt und so gut wie druckreif, manchmal
unfertig oder auch nur in Form bloßer Gedankensplitter. Sie sammelte Zitate,
Zeitungsausschnitte, Fotografien und Einkaufsquittungen, ohne zu wissen,
wann und wofür und ob überhaupt sich das alles jemals verwenden lassen
würde.
Meistens schrieb sie an ihrem Laptop. War sie ohne ihn unterwegs, was
selten vorkam, benutzte sie eines der Notizbücher, die sie wie unter Zwang
ständig kaufte und von denen sie das aktuelle immer mit sich herumschleppte.
Bei Gesprächen verwendete sie gern das Diktafon, das sie sich vor kurzem
zugelegt hatte. Zur Not taten es aber auch Zettel, die sie später einklebte,
genau wie die Zeitungsausschnitte, Fotografien und Quittungen.
Sie nannte diese Form des Tagebuchs, das ja streng genommen gar keines
war, ihr Schmuddelbuch.
Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, strömte kalte Luft herein. Das
Wetter hatte sich verändert. Die Temperatur war über Nacht um zehn Grad
gefallen. Leichter Schneeregen ging aus dem braungrauen Himmel nieder. Die
Häuser waren in Grau getaucht. Selbst das Licht der Autos wirkte schmutzig.
Romy wickelte sich den Schal fester um den Hals und zog die Stulpen, die sie
in den Wintermonaten meistens trug, ein Stück weiter über die Finger. Dann
fing sie an zu schreiben.
Fühlinger See. Leiche: männlich, zweiundzwanzig Jahre alt.
Tatort aufsuchen. Informationen über das Opfer beschaffen. Umfeld
kennenlernen.
Vierter Mord.
Wer waren die früheren Opfer?
„Hi, Süße!“
Der Typ, der zu dieser Stimme gehörte, war Romy von ganzem Herzen
zuwider, aber er arbeitete als Lokalredakteur beim Kölner Anzeiger, kannte
Gott und die Welt und war einer von den Leuten, mit denen man es sich besser
nicht verscherzte. Sein Kopf war eine Quelle nützlicher Informationen, und
obwohl Romy sich dafür verabscheute, nutzte sie die Schwäche, die er
anscheinend für sie hegte, gnadenlos aus.
„Hi, Ingo.“ Das Süße wollte sie ihm heute durchgehen lassen, und dass er
sich unaufgefordert zu ihr an den Tisch setzte, ebenfalls. Der Artikel über
den Toten im Fühlinger See stammte aus seiner Feder oder vielmehr aus seinem
Computer. Der Himmel hatte ihn im rechten Moment ins Alibi geschickt.
Er bestellte sich ein Käse-Schinken-Baguette und einen doppelten
Espresso, sah der Bedienung lüstern hinterher, lehnte sich dann zurück und
musterte Romy mit einem langen, forschenden Blick.
„Wollten wir nicht demnächst mal miteinander ausgehen?“, fragte er.
„Wollten wir das?“
Er versuchte es immer wieder. Und Romy wies ihn jedes Mal zurück.
„Erkenne ich da etwa einen ungewohnten Ausdruck von Milde in deinen
Augen?“
„Muss an der schummrigen Beleuchtung liegen.“ Romy rang sich zu einem
Lächeln durch. „Du hast doch nicht vergessen, dass ich vergeben bin?“
Ingo schlug die Beine übereinander. Sein Gesicht, das vorher beinahe
offen gewesen war, hatte sich wieder verschlossen und trug jetzt eine Maske
von Arroganz und Überheblichkeit. Vielleicht war es aber auch gar keine
Maske. Vielleicht war das sein wahres Gesicht. Romy hatte es noch nicht
herausgefunden.
„Was willst du?“, fragte er.
„Ich?“ Romy hob die Hände, ein Bild reiner Unschuld. „Wir plaudern doch
bloß.“
„Ungewohnte Freundlichkeit ist alarmierend, Liebchen, vor allem bei dir.“
„Okay.“ Romy wandte sich wieder ihrem Laptop zu. „Wir müssen ja nicht
reden. Ich hab sowieso zu tun.“
Er beugte sich vor, um einen Blick auf das zu werfen, was Romy bereits
getippt hatte, eine Todsünde unter Journalisten. Und wenn man noch so wenig
im Leben respektierte – man schaute einem Kollegen bei der Arbeit nicht
ungefragt über die Schulter, das war ein ungeschriebenes Gesetz. Und es galt
selbst für junge Volontärinnen.
Romy schaltete den Laptop aus und klappte ihn zu. Sie überlegte sich
gerade, wie sie Ingo möglichst geschickt auf den Toten aus dem See
ansprechen könnte, als die Kellnerin das Baguette und den Espresso brachte.
Ingo begrapschte das Mädchen förmlich mit seinen Blicken, doch sein
Interesse tropfte an ihr ab. Verärgert wandte er sich seinem Teller zu und
fing an zu essen. Die Kruste des Baguettes, das warm serviert wurde, krachte
unter seinen Zähnen. Krümel spritzten über den Tisch. Remoulade lief ihm in
die Mundwinkel.
„Ich habe deinen Artikel gelesen“, begann Romy. „Den über den Mann aus
dem See.“
Ingo nickte, ließ sich aber beim Essen nicht stören.
„Die Polizei mauert ja ganz schön“, fuhr Romy fort.
Ingo wiegte den Kopf. Das blonde, strähnige Haar fiel ihm in die Augen.
Er strich es mit fettglänzenden Fingern hinter die Ohren. Romy wusste, dass
er Anfang dreißig war. Sie wäre von selbst nie darauf gekommen. Ingo Pangold
gehörte zu diesen alterslosen Menschen, die mit zwanzig kaum anders aussehen
als mit fünfzig.
„Wenn die nichts sagen wollen, dann halten die dicht“, tastete Romy sich
weiter vor. „Da nützen einem auch die besten Kontakte nichts.“
Seine grauen Augen wurden schmal. Einen Moment lang hörte er auf zu
kauen. Dann schluckte er den Bissen herunter und spülte mit Espresso nach.
Er feixte. „Guter Versuch. Wär fast drauf reingefallen.“
Mist!, dachte Romy. „Komm schon“, sagte sie schmeichelnd. „Ein bisschen
was kannst du mir doch erzählen.“
Wieder verengten sich seine Augen. „Wieso interessiert dich der Fall?“
„Aus keinem bestimmten Grund“, wich Romy aus. „Der Typ war jung. Das
lässt einen doch nicht kalt.“
„Scheiß drauf! Hinter was bist du her?“
Romy wusste, dass sie sein Vertrauen gewinnen musste. Sie winkte der
Kellnerin und bestellte sich ebenfalls ein Baguette. Gemeinsame Vorlieben
hatten etwas Verbindendes, das war als Einstieg sicher nicht verkehrt. „Also
gut“, sagte sie. „Ich recherchiere für einen Artikel über Wasserleichen.“
Er prustete Espresso über den Tisch. „Über Wasserleichen?“
Romy tat beleidigt. Sie wischte sich die glitzernden Tröpfchen vom Pulli.
„Wo, bitte, ist denn da die Story?“
Die Story. In ihrem Beruf ging es immer nur darum. Das Leben eines guten
Reporters war eine einzige Jagd danach. Nicht nach irgendeiner, sondern nach
der Story.
„Wusstest du, dass achtzig Prozent aller Wasserleichen nicht älter
geworden sind als fünfundzwanzig?“, improvisierte Romy. „Verstehst du? Junge
Leute, Freitod, Mord, Unglücksfälle. Und alle haben mit Wasser zu tun. Das
ist meine Story.“
Er würde herausfinden, dass sie ihn angelogen hatte, aber das würde
hoffentlich noch eine Weile dauern. Jedenfalls nahm er ihr die Geschichte
ab. Er entspannte sich, verlor sein Misstrauen und wischte sich mit seiner
Serviette den Mund.
„Also gut“, sagte er mürrisch und säuberte sich schnalzend mit der Zunge
die Zähne. „Ein bisschen was hab ich natürlich rausgefunden.“
Romy versuchte, nicht allzu interessiert auszusehen, als Ingo anfing, aus
dem Nähkästchen zu plaudern.
*
Er streifte sich das Messgewand über.
Raschelnde Seide.
Schwarz.
Der November war seit jeher der Monat der Toten.
Auch sein Haar war schwarz. Einzig sein Gesicht und seine Hände waren
hell.
Er sah sich gern so.
Todesengel, dachte er.
Und begann leise zu summen.
Eine wehmütige Melodie.
Das Leben war ein einziger Kampf. Gegen das Böse, das überall lauerte. In
den schlechten Filmen, die Gewalt verherrlichten. In den Büchern, die die
Wahrheit verschleierten. In den Bordellen der Städte und Dörfer. Den Bars
und Striplokalen. In den Machtzentren der Welt. Auf den Straßen. In den
Wohnungen und den Herzen der Menschen.
Der Teufel hatte sein Gift versprüht. Er hatte blühende Pflanzen
ausgerupft und schweflige Ödnis hinterlassen. Er hatte den Menschen die
Seele aus dem Leib gerissen und ihnen stattdessen einen Stein eingepflanzt.
Und niemand sah die Zeichen.
Dabei war die Zeit längst gekommen, dem unheiligen Treiben Einhalt zu
gebieten.
Licht ins Dunkel zu bringen.
Dem Satan die gestohlenen Seelen zu entreißen.
„Ich bin gekommen, euch zu erretten“, murmelte er.
Die Last lag schwer auf seinen Schultern.
Er war der Fackelträger in finsterer Zeit. Aber würde er den Stürmen
trotzen können?
Als er sich von seinem Spiegelbild abwandte, scheuerte seine Kleidung auf
der Haut, und er unterdrückte ein Stöhnen.
Da lag sie noch, die Rute, mit der er sich gegeißelt hatte. Sie hatte ihm
tief ins Fleisch geschnitten. Er würde sich um die Wunden kümmern müssen.
Später.
Nachdem er allen seinen Rücken gezeigt hatte.
„Herr“, sagte er. „Ich bin dein.“
Doch heute antwortete der Herr ihm nicht.
Pia tunkte die Bürste ins Wasser und
schrubbte weiter. Der Küchenboden war mit groben Fliesen belegt, die das
gesamte Farbspektrum warmer Braun- und Rosttöne abdeckte. Wie in einem
dieser bretonischen Bauernhäuser, die man für die Ferien mieten konnte. Pia
hatte als Kind einmal mit ihren Eltern einen Sommer in einem solchen Haus
verbracht.
Damals. Als die Welt noch klar und geordnet war.
Als nichts ihr wirklich Angst machen konnte.
Als die Eltern noch Riesen waren und unbesiegbar. Als sie Pia noch
beschützt und behütet hatten.
Pias Hände waren rot und fast schon ein bisschen angeschwollen. Sie
reagierte allergisch auf Seifenlauge, doch sie durfte bei dieser Arbeit
keine Gummihandschuhe tragen. Er hatte es ihr verboten.
Auf den Knien, hatte er befohlen. Bis ich dir sage, dass du fertig bist.
Wie lange schrubbte sie schon? Drei Stunden? Vier?
Sie hatte kein Gefühl mehr für die Zeit, die vergangen war.
Ihre Knie brannten. Ihr Rock war klatschnass.
Verdorben. Nie wieder würde sie ihn tragen können. Dabei war er der
einzige noch halbwegs schöne, den sie besaß.
Sie hatte sich nicht umziehen dürfen.
Lerne Demut!
Ihre Nase lief. Sie hatte kein Taschentuch bei sich und wischte sich den
Rotz mit dem Rocksaum ab. Jetzt war sowieso schon alles egal. Die Haare
klebten ihr im Nacken. Tränen hatten kribbelnde Spuren auf ihren Wangen
hinterlassen.
Sie wagte nicht, sich vorsichtig zu kratzen. Sie durfte nichts tun, was
sie von der Arbeit abhielt.
Hier hatten die Wände Augen.
Lerne Gehorsam!
Deshalb hatte er sie zu sich geholt. Um ihr Gehorsam beizubringen. Und
Demut. Und all die anderen Tugenden, die sie nicht besaß.
Dein Herz ist voller Eitelkeit.
Seine Stimme klang traurig, wenn er so etwas sagte. Und etwas schwang in
ihr mit, das sie vor Furcht erbeben ließ. Es war unklug, ihn zu reizen und
seinen Zorn auf sich zu ziehen.
Sie wusste bloß nicht, wie sie es vermeiden konnte.
Er verbot ihr, sich zu schminken. Er untersagte ihr, sich hübsch
anzuziehen.
Du wirst lernen, eine Dienerin des Herrn zu sein.
Pia kannte dieses Wort nur noch aus alten Büchern. Sie las
leidenschaftlich gern. Deshalb hatte er ihr auch die meisten ihrer Bücher
genommen
Hast du mich verstanden?
Ja, Vater.
Sie alle mussten ihn Vater nennen. Selbst diejenigen, die älter waren als
er. Er war ihr Hirte. Er führte sie durch jedes noch so finstere Tal. Sie
brauchten sich nicht zu fürchten.
Sagte er.
Aber Pia fürchtete sich. Sie hatte eine Angst, so groß, dass sie sich ihr
Ausmaß nicht einmal vorstellen konnte. Eine Angst, höher als der höchste
Berg. Fest und massiv und unverrückbar.
Wie sollte sie die bewältigen?
Das war nicht immer so gewesen.
Anfangs hatte sie ihn sogar geliebt. Nein. Verehrt. Wenn er sie
angeschaut hatte, war sie voller Freude gewesen. Ein einziges Lächeln, das
ihr gegolten hatte, hatte sie durch den ganzen Tag begleitet.
Er hatte ihr schon lange kein Lächeln mehr geschenkt.
Ich bin unvollkommen, dachte sie.
Ihre Gedanken waren nicht, wie sie sein sollten. Sie waren anders als die
Gedanken der andern.
Ich muss mich ändern.
Es war Sünde, die meisten Sätze mit
Ich zu beginnen. Es war Sünde, als Mitglied dieser Gemeinschaft nicht
glücklich zu sein. Es war Sünde, die liebevolle Fürsorglichkeit des Vaters
als einengend zu empfinden.
Pia hatte ja versucht, sich zu bessern. Hatte nicht mehr so viel Zeit mit
ihren Büchern verbracht und sich stattdessen in die Lektüre der Bibel
vertieft. Hatte die Freundschaften außerhalb der Gemeinschaft unter
fadenscheinigen Vorwänden beendet. War fast nur noch in Begleitung eines
Mitbruders oder einer Mitschwester zu den Vorlesungen gegangen.
Und schließlich hatte sie restlos alles aufgegeben und war hierher
gezogen.
Pia gab sich alle Mühe, nicht zu heulen. Sie versuchte, sich auf ihre
Arbeit zu konzentrieren. Wenn sie sich anstrengte, seine Erwartungen zu
erfüllen, würde er sie vielleicht nicht zwingen, auch noch ihr Studium
abzubrechen, damit sie Demut und Gehorsam lernte.
Erschrocken bemerkte sie, dass sie alle zu täuschen versuchte. Sie wollte
unbedingt etwas behalten, das ihr selbst gehörte und das ihr wichtig war.
|