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Schmuddelbuch, Dienstag, 1. März, acht Uhr, noch im Bett
Erreiche Björn nicht. Wahrscheinlich ist er wieder in Berlin, um in seinem hochkomplizierten Liebesleben aufzuräumen. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen.Wir haben uns immer gegenseitig unterstützt. Viel zu sehr. Haben die Probleme des andern zu unsern eigenen gemacht. Vielleicht ist das bei Zwillingen normal, ich weiß es nicht. Habe mich nie darum gekümmert.
Greg schickt mich zu einem Vortrag an der Uni. Ein Professor Norman Forsyte spricht über besondere Aspekte der Zwillingsforschung. Passt, oder? Einerseits bin ich gespannt darauf, andrerseits empfinde ich ein merkwürdiges Unbehagen. Als wollte mich dieser Professor dazu bringen, einen Blick in mein Innerstes zu werfen, auf etwas Unberührbares, das ich aus gutem Grund nie angetastet habe.
In der Nacht waren die Temperaturen wieder unter den Gefrierpunkt gesunken. Die letzten Februartage waren sonnig und beinah schon frühlingshaft gewesen. In den Kölner Straßencafés hatte Hochbetrieb geherrscht. Die Leute hatten sich die Sonnenbrillen auf die Nase gesetzt und waren Hand in Hand durch die Stadt geschlendert.
Licht und Schatten, Vogelgezwitscher und ein lauer Wind. Das
alles war wie ein Versprechen gewesen.
Nun lag erneut Reif auf den Dächern, und es war so kalt, dass Romy am liebsten wieder unter die Bettdecke gekrochen wäre. Sie legte ihre Kladde beiseite, lief ins Bad, streifte T-Shirt und Slip ab, stellte sich unter die Dusche und drehte das Wasser so heiß, wie sie es eben noch aushalten konnte.
Sie liebte den Winter, aber allmählich hatte sie das Bedürfnis nach Sonne und Wärme. Sie sehnte sich danach, endlich mal wieder mit ihrem Laptop draußen zu sitzen, statt immerzu in geschlossenen Räumen zu arbeiten.
Während ihr unter dem heißen Wasser allmählich wärmer wurde, überlegte sie, was sie anziehen sollte. Sie würde ein Gespräch mit dem Professor führen und hatte mit Norman Forsytes Sekretärin einen Termin verabredet. Zwölf Uhr. Direkt nach seinem Vortrag.
Ihr war nach Jeans, dickem Pulli und ihren gefütterten Stiefeln. Nach ihrer wattierten Jacke und dem schwarzen Filzhut, der eigentlich eher eine Mütze war. Also würde sie genau das anziehen. Sie ließ sich Wasser in den Mund laufen und spuckte es in hohem Bogen wieder aus.
In ihrem Bauch grummelte es. Vor Hunger. Und vor Aufregung. Ein Interview hatte sie noch nie gemacht und sie hatte mächtig Bammel davor. Doch Greg ließ sich von ihrem Lampenfieber nicht beeindrucken. Er hatte ihr die Chance zu diesem Volontariat gegeben und verlangte, dass sie sie nutzte.
»Schwimmen lernst du nur, wenn du ins Wasser springst. Und Schreiben lernst du nur durch Schreiben.«
Seine Worte. O-Ton.
Eine halbe Stunde später saß Romy mit noch feuchten Haaren an ihrem kleinen Esstisch in der Küche, knabberte zwei Scheiben Toast mit Honig und ging noch einmal durch, was sie sich überlegt hatte. Aus ihren Recherchen im Internet ergaben sich immer mehr Fragen.
Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit der Zwillingsforschung zu beschäftigen?
Sind Sie selbst ein Zwilling?
Stimmt es, dass Zwillinge bereits im Mutterleib ihre sozialen Rollen erlernen?
Gibt es wirklich Fälle von Kannibalismus bei ungeborenen Zwillingen?
»Stell dir vor, was deine Leser interessiert«, hatte Greg ihr beigebracht. »Frag dich, was dich selbst beschäftigt. Geh bloß nicht akademisch an die Dinge heran.«
Gregory Chaucer, Verleger und Chefredakteur des links-alternativen, zweiwöchentlich erscheinenden KölnJournals, war ein guter Lehrer. Sie hätte sich keinen besseren wünschen können.
Als sie ihre Dachgeschosswohnung verließ, ihre Fragen im Gepäck, ihren Laptop in der Umhängetasche, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, um sich gegen die Kälte und den schneidenden Wind draußen zu wappnen, wünschte sie sich für einen kurzen Moment Björn an ihre Seite. Gemeinsam waren sie unschlagbar. Immer schon gewesen.
Trotzig drückte sie den Rücken durch. Norman Forsyte mochte ein weltweit anerkannter Professor und Zwillingsforscher sein, aber er würde ihr bestimmt nicht den Kopf abreißen, wenn sie sich hier und da ungeschickt anstellte.
Da die meisten Hausbewohner bereits unterwegs waren, gelangte Romy ohne Probleme an ihr Fahrrad. Sie hatte es, entgegen den Hausvorschriften, unten im Hausflur abgestellt, wie alle andern auch. Streng genommen gehörte es ihrem Freund Calypso, doch er hatte es ihr überlassen, nachdem ihr eigenes vor einigen Monaten geklaut worden war. Übergangsweise, hatten sie damals vereinbart, allerdings ging das Fahrrad mittlerweile ganz allmählich und unauffällig in Romys Besitz über.
Wenn nicht gerade Schnee lag, zog sie es vor, mit dem Rad zu fahren. In der Kölner Innenstadt war das Parken eine Katastrophe. Die Parkhäuser waren sündhaft teuer, und um irgendwo einen kostenfreien Parkplatz zu ergattern, brauchte man Zeit. Und Nerven aus Stahl.
Die meisten Bäume waren noch kahl, die Haselnusssträucher jedoch waren schon übersät mit langen gelben Blüten, die wie Raupen an den Zweigen hingen. Schneeglöckchen strahlten in der Sonne. Die Köpfe der Krokusse waren in der Kälte noch geschlossen. Sie würden sich, wenn überhaupt, erst in ein paar Stunden öffnen.
Romy hatte sich den Schal über die Nase gezogen, obwohl sie es hasste, wenn die Wolle von ihrem Atem feucht wurde und nach Schaf zu riechen begann. Ihr kamen Zweifel. Vielleicht hätte sie besser die U-Bahn nehmen sollen, um in einem halbwegs präsentablen Zustand bei dem Vortrag anzukommen.
Er fand im Kinosaal des Museum Ludwig statt, und weil Romy früh genug da war, hatte sie noch Zeit, im Restaurant einen Cappuccino zu trinken. Während sie den Blick über die Menschen an den übrigen Tischen schweifen ließ und sich bei der behaglichen Geräuschkulisse allmählich entspannte, versuchte sie ein weiteres Mal vergeblich, ihren Bruder zu erreichen.
Björn hatte sein Handy nicht ausgeschaltet, nahm das Gespräch jedoch auch nicht an. Romys Gefühle schwankten zwischen Enttäuschung, Ärger und Sorge. Es war nicht Björns Art, ihre Anrufe zu ignorieren. Es passte auch nicht zu ihm, sich tagelang nicht zu melden. Aber sie konnte nicht weiter darüber nachgrübeln. Die Ersten erhoben sich bereits, um sich in den Kinosaal zu begeben.
Auch Romy zahlte und stand auf. In ihrem Nacken spürte sie etwas Fremdes. Als würde jemand sie beobachten. Oder als würde eine drohende Gefahr ihren Schatten auf sie werfen. Sie schlang sich den Schal um den Hals und machte sich auf den Weg.
*
Fühle mich stark. Göttlich. Unbesiegbar. Blicke in den Spiegel.
Sehe mir selbst in die Augen.
Erkenne mich.
Das kann morgen schon wieder anders sein. Und weil ich das weiß, genieße ich die Momente, in denen ich ganz bin. Unversehrt.
Ich will sie nicht, die Zweifel. Die Ängste. Aber sie fragen nicht, ob ich für sie bereit bin. Überfallen mich hinterrücks, wenn ich am wenigsten damit rechne. Ich sitze in einem Café, die Tür geht auf, und jemand kommt herein. Beispielsweise. Schwarz hebt sich seine Silhouette von dem Gegenlicht ab.
Er betritt den Raum und ich erschrecke. Bin unfähig, Luft zu holen. Sitze auf meinem Stuhl wie gelähmt. Kann nicht mal einen Finger krümmen. In meinem Kopf ist es ganz still, während die Geräusche in meiner Umgebung sich nicht verändern. Ich habe bloß nichts mehr mit ihnen zu tun.
Die andern und ich. Für ein paar Sekunden sind das getrennte Welten.
In meinem erstarrten Körper gefangen, warte ich, bis ich mich wieder regen kann.
Die Gestalt geht an meinem Tisch vorbei. Die Stimmen der übrigen Gäste gelangen wieder in mein Bewusstsein. Die beiden Welten schieben sich wieder übereinander. Ich bin wieder ganz.
Wie jetzt. Vorm Spiegel, in dem ich mein Gesicht bewundere und den entschlossenen Blick meiner Augen.
Warum kann es nicht immer so sein?
*
Er konnte seine Brille nicht finden. War blind wie ein Maulwurf und fand seine Brille nicht!
Dabei legte er sie nur an ganz bestimmten Stellen ab. Auf der Kommode im Flur, auf dem kleinen Badezimmerregal oder auf dem Nachttisch neben seinem Bett.
Nirgendwo sonst. Niemals.
Doch an all diesen Stellen hatte er bereits nachgesehen.
Die Brille war nicht da.
Er war so kurzsichtig, dass er nicht viel mehr als Licht und Schatten und den unscharfen Umriss von Gegenständen und Personen erkennen konnte, selbst wenn sie sich nur einen Meter von ihm entfernt befanden. Die kleine Zweizimmerwohnung, die er sich leistete, seit er die Assistentenstelle bei Professor Meinhardt an der Uni Bonn bekommen hatte, bestand für ihn lediglich aus einem sanften Gemisch warmer Farbtöne.
Wie auf einem abstrakten Gemälde.
Die Sonne leuchtete die Zimmer aus, brachte einen Goldton in das Bild hinein. Und Wärme. Fast war es ihm schon zu viel. Er fing an zu schwitzen.
Dankbar registrierte er den kühlen Luftzug, der ihn streifte. Der war schon wieder verschwunden, als er sich fragte, was ihn verursacht haben mochte. Sämtliche Fenster waren doch geschlossen.
Kopfschüttelnd tastete er sich zum Schreibtisch vor. Ein einziger achtlos abgestellter Gegenstand konnte ihn straucheln lassen. Aus diesem Grund war ihm immer sehr bewusst, wo die Möbel standen und wo er seine Brille abgelegt hatte, wenn er sie überhaupt abnahm.
Etwa vor dem Duschen, wie heute Morgen.
»Denk nach«, sagte er zu sich selbst. »Wo hast du die Brille zuletzt gesehen?«
Er war später aufgestanden als sonst, weil er die halbe Nacht lang gearbeitet hatte. Kurz nach zehn war er vom Wecker aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden. Er hatte die Brille vom Nachttisch genommen, sie aufgesetzt und war in die Küche gegangen, um die Kaffeemaschine in Gang zu bringen. Das hatte sich bei ihm so eingespielt: Während der Kaffee durchlief und die Küche mit seinem würzigen Duft erfüllte, duschte er. Dann schlüpfte er in den Bademantel und frühstückte. Erst danach zog er sich an.
Das machte er so, seit er nicht mehr in seiner leicht chaotischen alten Wohngemeinschaft lebte.
Auch heute Morgen war er von diesen Gewohnheiten nicht abgewichen. Er hatte die Kaffeemaschine mit Wasser gefüllt, eine Filtertüte eingelegt und Kaffeemehl hineingegeben. Zwei Messlöffel voll, wie jeden Morgen. Dann hatte er geduscht, sich abgetrocknet, den Bademantel übergeworfen …
Und seine Brille nicht gefunden.
So sehr er auch die einzelnen Schritte durchspielte, er erinnerte sich nicht daran, wann genau er die Brille abgenommen hatte. Vermutlich doch kurz bevor er in die Duschkabine gestiegen war. Alles andere ergab keinen Sinn.
Wieso lag das verdammte Ding dann nicht auf dem Regal im Badezimmer, wo sie sich sonst auch immer befand?
In einer der beiden Schreibtischschubladen bewahrte er seine Ersatzbrille auf und zusätzlich zwei alte, ausrangierte Exemplare. Ihre Glasstärke war zwar nicht mehr ausreichend, sie konnten zur Not jedoch noch benutzt werden. Seine Hand fuhr in die Schublade. Leer zog er sie wieder hervor.
Wie war das möglich?
Ratlos richtete er sich auf. Er war sich absolut sicher, dass er die Brillen nicht von dort entfernt hatte. Himmel, er war noch keine dreißig, er würde sich doch daran erinnern!
Noch während er das dachte, spürte er, wie eine leise Angst in ihm hochstieg. War jemand in der Wohnung gewesen?
Es war schrecklich, sich so hilflos zu fühlen. Nicht durch die Räume gehen zu können, ohne bei jedem Schritt zu befürchten, gegen die Möbel zu stoßen oder über irgendwas zu stolpern und zu stürzen.
Ruhig, sagte er sich. Hektik bringt jetzt gar nichts.
Doch er war in Eile. Das Seminar über die deutsche Nachkriegsliteratur, das er in diesem Sommersemester halten würde, sein zweites, fing im April an, und er war mit seinen Vorarbeiten im Rückstand. Für heute hatte er einen Tag in der Bibliothek eingeplant, doch ohne Brille würde er nicht einmal bis zur nächsten Straßenecke gelangen, wo er seinen Wagen geparkt hatte.
Selbst jemanden zu bitten, ihn zur Uni zu fahren, hatte keinen Sinn. Er sah ja die Hand vor Augen nicht. Wie sollte er da den Tag überstehen? Bücher finden? Notizen machen? Mit Menschen sprechen, deren Gesichter er lediglich als helle Kreise ausmachen konnte?
Ohne Brille war er nicht einmal in der Lage zu lesen.
Er nahm sich voran, die ganze Wohnung noch einmal gründlich abzusuchen.
Am besten, er begann gleich mit dem Schreibtisch und arbeitete sich von da aus voran. Eine Stunde gab er sich noch. Hatte er bis dahin keine der Brillen gefunden, würde er doch einen seiner Freunde anrufen müssen, der ihn zum Optiker brachte. Er benötigte rasch einen Ersatz. Unbedingt.
Er betastete Bücherstapel und Papierberge, seine Hände glitten über die leichte Tastatur des Laptops und den kühlen Chromfuß der Schreibtischlampe. Seine Finger befühlten Kalender, Kugelschreiber und Kaffeebecher. Vor Anspannung brach ihm der Schweiß aus.
Verdammt!
Er beugte sich gerade über das Sofa, das er meistens als Ablagefläche für allen möglichen Kram nutzte, als er ein Geräusch hörte. Es war nicht laut. Aber es war unerwartet.
Und es war fremd.
Es hatte keinen Platz in dieser Wohnung. Es gehörte nicht hierher, denn er war allein, und eigentlich sollte es außer ihm in diesen Zimmern nichts geben, das ein Geräusch verursachte.
Lauschend neigte er den Kopf.
Als sich das Geräusch nicht wiederholte, fuhr er zögernd mit der Suche fort. Er verfluchte seine Hilflosigkeit, hasste es, sogar einem Geräusch so ausgeliefert zu sein.
Er hatte die Hälfte des Arbeitszimmers geschafft, als er die Anwesenheit eines anderen Menschen spürte.
Wieder verharrte er, wie ertappt.
Er kniff die Augen zusammen in dem vergeblichen Versuch, das undeutliche Bild vor seinen Augen ein wenig schärfer einzustellen. Es nützte nicht viel. Alles verschwamm ineinander, die Farben, die Konturen. So musste die Welt für einen aussehen, der sich unter Wasser befand.
»Hallo?«, sagte er. »Ist da jemand?«
Er kannte diesen Satz aus Filmen und hatte ihn da immer selten dämlich gefunden. Als ob ein Eindringling auf eine solche Frage antworten würde.
Ja, ich bin’s, Ihr Einbrecher. Ich will nicht lange stören, schnappe mir bloß das Tafelsilber, die Kamera, den Laptop und was sonst noch so rumliegt und bin schon wieder weg.
Und doch hatte er fragen müssen. Der Klang seiner Stimme gab ihm das Gefühl, nicht völlig in der Luft zu schweben. Sie verlieh ihm Halt, auch wenn sie seine Angst nicht verbergen konnte.
Die Antwort war eine noch dichtere Stille als zuvor.
Er schluckte. Schmerzhaft trocken und furchtbar laut. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Die Zunge lag wie ein Fremdkörper in seinem Mund. Seine Augen waren jetzt schon müde von der ungewohnten Anstrengung, ihre Aufgabe ohne Brille zu bewältigen.
Schritte.
Langsam.
Fast lautlos.
Und ganz nah.
Sie ließen seine sämtlichen Körperfunktionen erstarren. Sein Herz schien nicht mehr zu schlagen, das Blut nicht länger durch seine Adern zu fließen. Alles in ihm hielt still, und für einen Moment schloss er die Augen, als könnte er auf diese Weise die Gefahr ausschließen.
Ene mene meck und du bist weg.
Doch das hatte schon früher nicht funktioniert.
Weg bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben …
Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, die den beiden Fenstern gegenüberlag, und blinzelte verzweifelt. Zog den Bademantel enger um den Körper und verknotete den Gürtel fester. Als könnte er sich so schützen.
Schützen?
Vor was?
Vor wem?
»So sagen Sie doch was.«
Er war nie der Typ gewesen, der Konflikte auf aggressive, handgreifliche Art gelöst hatte. Er war jedes Problem verbal angegangen und meistens hatte es funktioniert. Doch beide Möglichkeiten versagten, wenn das Gegenüber unsichtbar blieb.
Und keinen Laut von sich gab.
Erst in diesem Augenblick, wehrlos an die Wand gedrängt, ergab er sich dem Gedanken, dass er seine Brille gar nicht verlegt und die Ersatzbrillen nicht woanders untergebracht hatte. Dass jemand …
Entsetzt hielt er den Atem an.
Lauschte.
Er nahm jetzt den Duft eines Rasierwassers wahr, sehr schwach, kaum mehr als die Erinnerung an einen Duft. Als wäre es am Vortag aufgetragen und seitdem nicht erneuert worden.
Ein Mann also.
Jedoch hatte er auch keine Sekunde lang angenommen, der Eindringling könnte eine Frau sein. Ihm fiel auf, dass es keine weibliche Entsprechung für den Begriff Eindringling gab.
Er fand es absurd, dass er den Literaturwissenschaftler in sich nicht einmal in einer derart bedrohlichen Situation verleugnen konnte.
Der Mann kam näher. Sein Körper schob sich vor das Licht, das durch die Fenster fiel.
»Bitte. Was wollen Sie von mir?«
Der Umriss der dunklen Gestalt verriet ihm, dass der Eindringling groß sein musste. Größer als er selbst.
Was konnte er tun?
Sich auf ihn stürzen. Überraschend losrennen, um an ihm vorbei zur Tür zu gelangen, und dann die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus.
Keines von beidem war eine wirkliche Option, denn beides war ohne Brille illusorisch.
Er sehnte sich danach, dem Mann in die Augen sehen zu können. Ein einziger Blick, und er hätte gewusst, wie er reagieren sollte. Ein einziger Blick hätte ihm gezeigt, ob er den Hauch einer Chance hatte. Denn dass es um Leben und Tod ging, war ihm
so klar, als hätte der Fremde es ausgesprochen.
Ganz selbstverständlich ging er davon aus, dass es sich bei dem Eindringling um einen Fremden handelte. Dabei konnte er nicht einmal das mit Sicherheit wissen.
Es gab keine Möglichkeit, aus dieser schrecklichen Situation herauszukommen.
Außer einer vielleicht.
Er besaß eine einzige Stärke, und das war seine Redegewandtheit. Er musste versuchen, sich mit Worten einen Ausweg zu schaffen.
»Hören Sie«, sagte er und stieß sich in dem Versuch, eine Entschlossenheit vorzutäuschen, die er nicht besaß, halbherzig von der Wand ab. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und warum Sie hier eingedrungen sind …«
Er vollführte eine kleine, nutzlose Geste, die an der stummen, reglosen Gestalt ebenso abprallte wie seine Worte.
»… aber vielleicht können wir darüber reden. Ich …«
»Schweig!«
Während Leonard Blum fiel, fragte er sich, wie viele Menschen es heutzutage wohl noch geben mochte, die den Begriff schweigen im Imperativ benutzten. Wenige, dachte er. Sehr, sehr wenige. Aus dem Wortschatz der Studenten jedenfalls war er längst verschwunden.
Es war nicht so, wie man immer las. Sein Leben spulte sich nicht im Zeitraffer vor ihm ab. Sein letzter Gedanke galt dem Bedauern, dass er sterben würde, ohne das Gesicht seines Mörders gesehen zu haben.
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