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                                                                       1.

Die Luft war so heiß, dass sie beim Einatmen schmerzte. Sie flirrte über dem aufgeweichten Asphalt und ließ das stumpfe alte Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz glänzen. Die Urlauber suchten unter den Sonnenschirmen der Straßencafés und Restaurants Abkühlung bei kalten Getränken. Ihre Stimmen summten ermattet und kraftlos im blendenden Licht des Julinachmittags. Wie ausgestorben lagen die Gebäude da.
   Ihm war zum Heulen zumute. Alles hatte sich mit einem Schlag verändert. Nichts war ihm geblieben. Die vertrauten Häuser hatten sich in die Kulisse eines Albtraums verwandelt, in dem er zappelnd gefangen war.
   Hin und wieder wurde er gegrüßt und nickte knapp zurück. Kein Gruß, kein Wort hatte mehr Bedeutung.
   Seit einer Stunde lief er in Bautzen umher, ohne Plan und ohne Ziel. Seit einer Stunde zermarterte er sich das Hirn. Vergebens.
   Er war nicht der Typ, der an das Schicksal glaubte und alles gottergeben ertrug. Er war nicht geschaffen für Demut und Duldsamkeit. Er nahm sich, was er wollte, notfalls mit Gewalt. So hatte er es sein Leben lang gehandhabt und er hatte nicht vor, damit aufzuhören.
   Vor einem kürzlich neu eröffneten Geschäft standen zwei in der Sonne blitzende goldfarbene Blumenkübel mit weiß blühenden Rosenbüschen. Er brach eine Blüte ab und roch daran. Sie duftete nicht, und das erschien ihm wie ein Sinnbild für das, was ihm widerfahren war – sein Leben hatte alle Kraft verloren.
   Er drehte die Rose zwischen den Fingern, während er seine Wanderung wieder aufnahm und weiter vor sich hin grübelte. Dann blieb er plötzlich stehen. Es gab nur einen einzigen Weg, und das hatte er tief in seinem Innern von Anfang an gewusst. Es hatte ihn die ganze Zeit gequält. Er hatte es viel zu lange hinausgeschoben.
   Mit einem Lächeln überreichte er die Rose dem nächstbesten Mädchen, dem er begegnete. Sie war hübsch und gebräunt und ihr blondes Haar schimmerte silbrig im strahlenden Licht. Errötend drückte sie die Blüte an ihre Lippen, und er wünschte, er könnte sich auf ein Abenteuer einlassen.
   Doch er hatte keine Zeit.
   Jetzt, wo er wusste, was er tun wollte, musste er einen Plan ausarbeiten, Vorkehrungen treffen und endlich handeln.
   Rache.
   Ein schönes Wort.
*
Ich trat in den schattigen Innenhof hinaus und atmete unwillkürlich ruhiger. Das hier war mein liebster Ort, eine kleine Oase mit Vogelgezwitscher und Wassergeplätscher und dem Duft nach Lavendel, Rosen und Thymian und all den anderen Kräutern, die Merle mit erstaunlich dekorativem Geschick zwischen die übrigen Pflanzen gesetzt hatte.
   Man hätte glauben können, sich in Italien oder Spanien zu befinden. Unser Bauernhof war ein Glücksgriff gewesen. Ich nahm ihn noch immer nicht als selbstverständlich, freute mich jeden Morgen aufs Neue darüber, dass wir hier leben durften, Merle, Mina, Ilka, Mike und ich, wobei wir uns nicht alle ständig hier aufhielten.
   Mina nahm an einem Therapieprojekt teil und wohnte mit vier etwa gleichaltrigen Patienten in einer Art Übergangs-WG in der Nähe der Klinik, in der sie behandelt wurde. Sie besuchte uns ab und zu und genoss es, dann kleinere Renovierungsarbeiten zu erledigen. Wir waren längst noch nicht fertig mit den Umbauten und Verschönerungen und dankbar für jede Hand, die mit anpackte.
   Ilka und Mike waren von ihrer einjährigen Brasilienreise zurückgekehrt, die Rucksäcke voller Geschichten. Sie hatten sich mit Volldampf an die Einrichtung ihrer Zimmer gemacht, erkundeten das dörflich verträumte Birkenweiler, lernten nach und nach die Nachbarn kennen und gewöhnten sich allmählich wieder an unser Zusammenleben.
   Wir alle, außer Mina, die noch eine Weile mit ihrer Therapie beschäftigt sein würde, hatten uns mit der Frage beschäftigen müssen, welchen Weg wir jetzt einschlagen wollten. Ilka hatte sich für ein Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf beworben. Nach dem Tod ihres Bruders, der nach dem schrecklichen Sturz aus dem Fenster seinen schweren Verletzungen erlegen war, hatte sie endlich aufgehört, sich gegen ihre Begabung zu wehren.
   Sie hatte viel gezeichnet auf ihrer langen Reise und war aus seinem Schatten als berühmter Maler herausgetreten. Die Skizzen, die sie mitgebracht hatte, hauten einen um. Sie waren so grandios, dass ich mich fragte, was sie einer wie Ilka an der Kunstakademie eigentlich noch beibringen wollten.
   Merle hatte eine feste Stelle im Tierheim angenommen. Sie schlug sich nicht mit Fragen nach der Zukunft herum. Ihre Zukunft war die Gegenwart und sie kannte ihre Prioritäten genau. Obwohl sie viel arbeitete, hatte sie ihr Engagement im militanten Tierschutz intensiviert. Innerhalb der Gruppe war sie jetzt die allein Verantwortliche für die Planung und Ausführung der Aktionen.
   Mikes Traum war es immer gewesen, alte Möbel zu restaurieren. Nun hatte er beschlossen, ihn in die Tat umzusetzen. Im Schweinestall baute er sich gerade eine Werkstatt aus. Man sah ihn nur noch mit Staub und Mörtel im Haar, braungebrannt und fröhlich und berstend vor Energie.
   Ich selbst hatte mein freiwilliges soziales Jahr im St. Marien beendet, arbeitete jedoch weiterhin dort. Zum einen, weil ich jeden Cent brauchen konnte, zum andern, weil die alten Leute mir ans Herz gewachsen waren. Ich brachte es noch nicht fertig, mich von ihnen zu trennen.
   Ab Oktober würde ich studieren. Ich hatte mich für Psychologie entschieden und hoffte auf das phänomenale Glück, einen Studienplatz an der Uni Köln zu ergattern und in Birkenweiler wohnen bleiben zu können, anders als Ilka, die sich in Düsseldorf ein Zimmer nehmen wollte und in nächster Zeit nur Wochenendgast bei uns sein würde.
   Die Wahl meines Studienfachs war mir leichtgefallen. Ich hatte lange Gespräche mit Tilo geführt und tief in mich hineingehorcht. Menschen interessierten mich. Menschen wie Mina mit ihrer multiplen Persönlichkeitsstörung. Menschen wie die Demenzkranken im St. Marien. Mir war, als hätte ich schon immer unbewusst die Nähe zu denen gesucht, die durch das Raster der sogenannten Normalität gefallen waren.
   Doch über das, was insgeheim hinter meinen Überlegungen stand, hatte ich noch mit niemandem gesprochen, nicht mit Tilo, nicht mit Luke oder meinen Freunden und erst recht nicht mit meiner Mutter. Ich spielte nämlich mit dem Gedanken, später Polizeipsychologin zu werden, und es war ratsam, das für mich zu behalten, wenn ich keine schlafenden Hunde wecken wollte.
   Meine Mutter hätte alles getan, um mich davon abzubringen. Ich war zu oft in Verbrechen verwickelt worden, zu oft in Gefahr geraten. Inzwischen witterte sie hinter jeder Ecke einen Vergewaltiger, Entführer oder Mörder. Ich hatte absolut keine Lust, mich wieder im Netz ihrer Ängste zu verheddern.
   Aus dem Haus dröhnte ein lautes blechernes Scheppern, wie von einem auf den Boden gefallenen Topfdeckel. Ich hörte Merle und Mike lachen. Dann kam Smoky mit gesträubtem Fell herausgeschossen und verkroch sich unter dem üppigen Gelb und Grün des Frauenmantels. Einzig eine graue, ärgerlich zuckende Schwanzspitze schaute noch unter der Pflanze hervor.
   Du alter Haudegen, dachte ich zärtlich. Machst immer einen auf Macho und lässt dich dann von dem kleinsten unerwarteten Geräusch in die Flucht schlagen.
   Irgendwie erinnerte mich diese Überlegung an Luke, der gerade angerufen hatte, um im letzten Moment abzusagen. Wieder einmal. Ich war sauer.
   Merle und ich hatten diesen Tag so lange herbeigesehnt. Wir hatten dieses wunderschöne Bauernhaus im Süden Bröhls gefunden, das Platz für uns alle bot, einschließlich unserer drei Katzen. Die notwendigsten Renovierungsarbeiten und der Umzug lagen hinter uns, ein spannendes Zusammenleben konnte beginnen - wenn das kein Grund für eine Riesenfeier war.
   Luke jedoch schloss sich, wie so oft, aus.
   Die Enttäuschung trieb mir Tränen in die Augen. Wütend wischte ich sie weg.
   Ich merkte, dass sich die Stimmen der Vögel verändert hatten, seit Smoky herausgekommen war. Sie sangen nicht mehr, sondern riefen sich gellende Warnungen zu.
   Oder mir?
   Luke, du verdammter, blöder Spielverderber!
   Wir kannten uns seit vier Monaten, und er war mir noch immer ein Rätsel. Ich wusste so gut wie nichts über seine Kindheit, seine Familie, sein Leben.
   Als wär er vom Himmel gefallen.
   Ich wusste, dass er Jura studierte, bei dem Makler arbeitete, der uns den Bauernhof vermittelt hatte, und Büroarbeiten für meine Mutter erledigte. Dass er sich mit seinem Freund Albert eine Wohnung in der Palanterstraße in Köln-Sülz teilte, in der ich noch nicht gewesen war, weil es sich merkwürdigerweise nie ergeben hatte, ihn dort zu besuchen. Ich kannte einige seiner Lieblingsplätze und hatte herausgefunden, welche Filme er mochte.
   Und damit hörte es auch schon auf.
   Wir sahen uns nicht oft. Manchmal verabredeten wir uns und er sagte im letzten Augenblick ab, genau wie heute. Es konnten Tage vergehen, ohne dass er sich meldete und ohne dass ich ihn erreichen konnte.
   Wenn ich ihn darauf ansprach, lenkte er vom Thema ab. Darin war er Meister. Er schien meinen Ärger oft schon vor mir zu spüren und ließ ihn an seinem umwerfenden Lächeln abgleiten.
   Luke war mir so vertraut.
   Und so fremd.
   Ich hatte mich gegen alle Vernunft und viel zu überstürzt auf ihn eingelassen. Es war noch nicht lange her, dass ich meiner großen Liebe begegnet war. Und dann hätte diese Liebe mich beinah getötet. Damit wurde man nicht so schnell fertig.
   Hin und wieder spürte ich ein Erschrecken in mir, das mir den kalten Schweiß auf die Stirn trieb und meinen Herzschlag beschleunigte. Es konnte von allem Möglichen ausgelöst werden, dem Profil eines Mannes, dem Duft von Erdbeeren, einer Schlagzeile in der Zeitung. Ich war nie dagegen gefeit, brach schutzlos unter meinen Erinnerungen zusammen und kam nur mit Mühe wieder auf die Füße.
   Meine Freundin Merle hatte mir geholfen, Schritt für Schritt wieder in unserem Leben Fuß zu fassen. Sie war immer an meiner Seite gewesen. Wir hatten jede Herausforderung gemeinsam gemeistert. Ich legte großen Wert auf ihre Meinung, und ihre Skepsis Luke gegenüber, die sie noch immer nicht wirklich abgelegt hatte, bedrückte mich.
   Was, wenn ihr Gefühl sie nicht trog?
   Wie auf ihr Stichwort kam sie nun aus dem Haus, in jeder Hand ein Glas Orangensaft.
   „Magst du?“
   Der Saft war eiskalt. Schwitzwasser rann an den Gläsern hinab. Selbst hier, im wohltuenden Schatten der Akazie mit ihrem weiten, dunkelgrünen Blätterschirm, machte sich allmählich die Hitze breit.
   „Gerne.“
   Ich streckte die Hand aus und spürte die Kälte wie einen Schock.
   „Luke?“, fragte Merle.
   Ich hob die Schultern. Wir hatten schon so oft über Luke gesprochen, über sein Verhalten gerätselt und nach Erklärungen gesucht - nie kamen wir zu einem Ergebnis, mit dem wir etwas anfangen konnten. Luke entzog sich wie ein Geist. Kaum hatte man das Gefühl, ein bisschen mehr von ihm gesehen zu haben, da löste er sich auch schon wieder in Luft auf.
   Wir tranken in friedlicher Eintracht unseren Saft und genossen den kurzen Aufschub. In einer Stunde würden unsere Gäste eintrudeln und bis dahin war noch einiges vorzubereiten.
   Merle und Mike hatten gekocht. Ilka hatte Lampions in Garten und Innenhof aufgehängt. Sie hatte die Tische drinnen und draußen mit Blumen und Windlichtern geschmückt und die Sessel und Stühle mit bunten Tüchern drapiert. Mina, die für dieses Wochenende von der Klinik beurlaubt worden war, wollte sich um die Musik kümmern. Sie hatte Mikes Anlage an einer überdachten Stelle des Hofs aufgebaut, sich an unseren CDs bedient und ihr ganz persönliches Programm zusammengestellt. Von Rock und Pop über Jazz, Techno und Rap bis zu Klassik und Musical war so ziemlich alles vertreten.
   „Jeder von uns hat andere Vorlieben“, hatte sie dazu erklärt und ganz selbstverständlich im Plural gesprochen, denn sie bestand ja aus vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten, von denen jede einzelne zu ihrem Recht kommen wollte.
   Mir war die Rolle des Mädchens für alles zugefallen. Ich hatte Mike und Merle bei den Vorbereitungen zum Kochen geholfen, in der Küche das Büfett aufgebaut und war überall da eingesprungen, wo man mich gebraucht hatte.
   Es klingelte und wir hörten Claudios Stimme im Haus. Er hatte angeboten, italienische Vorspeisen und frisch gebackene Brötchen beizusteuern. Sein Pizzaservice hatte in Bröhl eingeschlagen wie eine Bombe und bot inzwischen fast alles, was man auch in einem italienischen Restaurant bestellen konnte.
   „Scheißkerl“, murmelte Merle und starrte verstockt auf ihre Füße.
   Merle und Claudio waren alles andere als ein Traumpaar. Ihre Beziehung war von Anfang an schwierig gewesen, weil Claudio es nicht fertigbrachte, in seinem Leben aufzuräumen, in dem es neben Merle noch eine Verlobte in seiner sizilianischen Heimat gab.
   Mitten in der Nacht hatten sie sich wieder gestritten, und Merle war im Morgengrauen fuchsteufelswild nach Hause gekommen. Sie hatte mich aus dem Tiefschlaf gerissen, sich zu mir ins Bett gekuschelt und sich ihren Frust von der Seele geredet, bis ich vor Erschöpfung wieder eingeschlafen war.
   „Und Luke ist genauso“, behauptete sie jetzt und sah mich grimmig an. „Lass dich nicht unterkriegen. Mach nicht die Fehler, die ich gemacht habe. Versprich mir das.“
   „Okay“, sagte ich. „Ich mache andere.“
   Sie grinste und trank den letzten Schluck Saft. Dann erhob sie sich seufzend und ging mit den leeren Gläsern ins Haus zurück.
   „Amore mio!”, hörte ich Claudio rufen.
   Er betrat jeden Raum wie eine Theaterbühne, mit großer Geste und überschäumendem Gefühl. Er war ein Hansdampf in allen Gassen, aber ich mochte ihn. Im Gegensatz zu Merle erkannte ich keinerlei Ähnlichkeit mit Luke. Außer einer vielleicht - anscheinend hatte keiner von beiden das Talent, dauerhaftes Glück zu verschenken und selbst glücklich zu sein.
   Ich stand auf und folgte Merle ins Haus. Ich hatte keine Lust zu grübeln. Dieser Tag sollte makellos sein.
   Claudio kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen.
   „Ah, Bella ...“
   Er drückte mich an sich, küsste mich auf beide Wangen und schwor mir, niemals ein schöneres Mädchen gesehen zu haben.
   „Außer Merle“, sagte er mit schmelzender Stimme. „Sie ist meine Madonna.“
   Das war ein gewagter Vergleich, denn Merle hatte so gar keine Ähnlichkeit mit einer Madonna, weder äußerlich noch innerlich. Sie ließ sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen, erst recht nicht von Claudio, dessen dominantes Gehabe sie immer wieder auf die Palme brachte.
   „Und wo ist Luke?“, fragte er und schaute sich suchend um.
   „Ihm ist was dazwischengekommen”, sagte ich.
   „Oh.“
   Ich konnte den Blick nicht leiden, mit dem Claudio mich bedachte. Als hätte Luke mich sitzen lassen. Und als wüssten alle, warum. Alle außer mir.
   „Du hast es gerade nötig“, fuhr Merle ihn an. „Du bist doch auch nie da, wenn man dich braucht.“
   Claudio beugte sich zu ihr und küsste sie hinters Ohr. Ich konnte sehen, wie Merle gegen ihren Willen dahinschmolz. In diesem Moment klingelte der erste Gast.
   Eine halbe Stunde später vibrierte unser Haus von Stimmen, Gelächter und Musik. Meine Mutter trug ein schwarzes Leinenkleid und hatte sich ein hinreißend fein gewebtes weißes Seidentuch um die Schultern geschlungen. Sie war so schön, dass Tilo sie immerzu betrachtete und nicht von ihrer Seite wich.
   Meine Großmutter, die in letzter Zeit mehrmals gestürzt war, stützte sich auf einen Stock. Er war aus tiefschwarzem Ebenholz und hatte einen versilberten Griff. Mit leisem Erschrecken nahm ich wahr, dass meine Großmutter alt geworden war. Wieso hatte ich das nicht bemerkt?
   Ilkas Tante war gekommen, ebenso wie Minas Mutter. Beide schienen einander sympathisch zu finden. Sie saßen im entlegensten Winkel des Gartens und waren in ein eifriges Gespräch vertieft. Merles Tierschutzgruppe und ihre Kollegen vom Tierheim waren unserer Einladung geschlossen gefolgt, und auch die Mitarbeiter des St. Marien waren, bis auf diejenigen, die Dienst hatten, vollständig angerückt.
   Sogar Frau Stein, die Heimleiterin, war da. Sie hatte mir die Freude gemacht, den Professor und Frau Sternberg mitzubringen. Der Professor war heute klar und aufgeräumt. Er hielt sich trotz seiner Rückenschmerzen sehr gerade und überreichte mir eines seiner geliebten Bücher, den Fänger im Roggen von J. D. Salinger.
   „Das ist für den Kopf und das Herz. Und die hier“, er zauberte mit galantem Schwung eine langstielige rote Rose hinter seinem Rücken hervor, „die ist für die Sinne. Aber natürlich wissen Sie, dass all das zusammengehört.“
   Ich wollte ihm die Hand geben, um mich zu bedanken, doch er zog mich an sich und hielt mich kurz fest. Er roch nach Seife, frisch gewaschenem und gestärktem Hemd und einem Hauch Aftershave, und seine Umarmung ließ mir Tränen in die Augen steigen. Ich mochte ihn sehr, und es rührte mich, dass er die Strapazen des Besuchs für mich auf sich genommen hatte.
   Frau Sternberg hatte mir einen Stein mitgebracht, den sie im Park gefunden hatte.
   „Schauen Sie, Kindchen“, sagte sie. „Er hat die Form eines Delfins.“
   Das stimmte. Ich fuhr mit dem Daumen über die glatte, von ihrer Hand noch warme Oberfläche.
   „Ich liebe Delfine“, erklärte Frau Sternberg. „Mehr noch als Lisztäffchen, Erdmännchen und Flamingos. Oder Elefanten. Mein Mann bevorzugt Eisbären. Vielleicht wird er irgendwann Zoodirektor. Das würde mich freuen.“
   Herr Sternberg war weit über achtzig und besuchte seine Frau im St. Marien, sooft es ihm möglich war, obwohl sie ihn nicht mehr erkannte. Er unterhielt sich liebevoll mit ihr und ertrug es klaglos, dass sie ihn siezte wie einen Fremden, während sie ihm mit leuchtenden Augen von ihrem jungen Ehemann erzählte.
   Ich nahm mir vor, an einem ihrer guten Tage mit ihr in den Zoo zu gehen.
   Frau Stein gab mir mit einem leisen Nicken die Erlaubnis dazu. Ich hatte die füllige, energische, oft ziemlich ruppige und abweisende Heimleiterin im Laufe der Zeit schätzen gelernt und begriffen, dass Sensibilität nicht nur Wesensmerkmal stiller, verhaltener Menschen ist. Frau Stein mit ihrem nie erlahmenden Engagement und ihrem Verständnis für die Sorgen und Nöte demenzkranker Menschen war für die Bewohner des St. Marien ein wahrer Segen.
   „Ich freu mich so, dass Sie hier sind“, sagte ich zu Frau Sternberg.
   „Und ich erst, Kindchen.“ Sie strahlte mich an. „Ich wollte unbedingt Ihr schönes Haus sehen. Und Ihre Freunde. Vor allem jedoch Ihren Liebsten.“
   Sie schaute sich mit verschwörerischer Miene um.
   „Ist es der da?“
   Sie hatte auf Mike gezeigt, der ihr zwinkernd zuwinkte.
   „Nein. Das ist Mike. Er wohnt auch hier.“
   An Frau Sternbergs Miene konnte ich erkennen, dass sie nicht verstand. Wenn ein Mädchen und ein junger Mann zusammenwohnten, dann waren sie in der Welt, in der Frau Sternberg groß geworden war, ein Paar. In unserem Fall sogar eines, das in wilder Ehe lebte.
   Mit einem zaghaften Lächeln zog sie sich wieder in sich selbst zurück.
   Die Gäste aßen und tranken. Sie nahmen im Nu das gesamte Haus in Besitz. Im Garten, im Hof und in sämtlichen Zimmern suchten und fanden sich Grüppchen und verteilten sich neu.
   Ab und zu hörte ich Mina lachen. Die Therapie tat ihr gut. Ich hatte sie selten so entspannt erlebt. Sie verstand sich mit Ilka und Mike und fand sogar allmählich Zugang zu den Katzen, vor denen sie anfangs zurückgeschreckt war.
   Alles war, wie es sein sollte.
   Nur Luke fehlte.
   Ich wusste nicht, wann ich ihn wieder sehen würde. Das wusste ich nie. Ich wusste nicht, wo er gerade war und was er tat, wusste nicht, wer seine Freunde waren und kannte seine Gewohnheiten nicht.
   Was wusste ich überhaupt über ihn?
   Oder über seine Gefühle?
   Was wusste ich über meine?
   Ich war hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Enttäuschung, ein Zustand, der mich fertig machte, mehr, als ich mir eingestehen mochte.
   „Hey“, flüsterte Mike mir ins Ohr.
   Ich hatte nicht bemerkt, dass er hinter mich getreten war, und zuckte zusammen.
   „Ist er das wert?“
   Ich fing einen verstohlenen Blick meiner Mutter auf und fragte mich, ob sie sich schon wieder Sorgen um mich machte. Sie war doch mit einem Psychologen zusammen. Wieso gelang es Tilo nicht, ihr die mütterliche Fixierung auf mich auszureden?
   Und warum spähte Mina so seltsam zu mir herüber?
   Anscheinend sahen mir alle an, wie es um mich stand. Mein Gesicht war ein offenes Buch und jeder blätterte nach Belieben darin.
   „Ja. Ist er.“
   Ich schnappte mir mein Handy und wandte mich ab.
   Lukes Nummer war direkt unter Merles gespeichert. An zweiter Stelle. Vor Ilka, Mike und Mina, vor meiner Mutter, Tilo und meiner Großmutter.
   Hi, hier spricht Lukas Tadikken. Ich bin unterwegs. Hinterlassen Sie mir doch eine Nachricht, dann ...
   Er war unterwegs? Wohin? Mit wem? Warum?
   Ich hatte Lust, es unseren Katzen nachzutun, die sich bei dem ungewohnten Lärm und Gedränge verkrochen hatten. Ich sah in lauter lächelnde Gesichter, hörte einzelne Worte, die sich aus dem Stimmengewirr lösten, und fand keinen Zugang dazu. Ich hatte das Gefühl, von allem getrennt zu sein. Als hätten sich zwischen den andern und mir unsichtbare Mauern aufgerichtet.
   „Na, mein Mädchen?“
   Großmutter saß erschöpft in einem Sessel, den Stock auf den Knien.
   „Seit wann benutzt du einen Stock?“, fragte ich.
   „Seit ich mich wie hundertdreißig fühle“, gab sie mir zur Antwort.
   Ich beugte mich zu ihr hinunter und küsste ihre Wange, die weich war und warm, genau so, wie die Wange einer Großmutter sein musste. Dann ging ich in die Hocke und schaute ihr ins Gesicht.
   „Du bist die schönste und jüngste Großmutter, die ich kenne ...“
   Ihr Lächeln zauberte Koboldfalten auf ihr Gesicht.
   „... und bestimmt die einzige, die Russisch lernt, Tanzkurse besucht, Yoga macht und ...“
   „Lenk nicht ab, Jette.“
   Wie hatte ich glauben können, sie würde mich nicht durchschauen? Wie hatte ich ihren unbestechlichen Adlerblick vergessen können?
   „Du bist unglücklich“, stellte sie fest.
   Ich schüttelte den Kopf und lachte ein falsches Lachen. Es war zu hoch und zu dünn. Und dann ließen mich meine blöden Augen im Stich. Sie schwammen in Tränen. Ich senkte den Kopf.
   „Was hat er getan, um dich zum Weinen zu bringen?“, fragte Großmutter unerbittlich.
   „Getan? Wer?“
   „Stell dich nicht dumm, Jette! Du weißt genau, von wem ich spreche. Wie heißt er noch gleich, Lu ...“
   Es war typisch, dass sie seinen Namen vergessen hatte, und es lag nicht an ihr. Von außen betrachtet war Luke kaum mehr als ein flüchtiger Besucher in meinem Leben. Sein Name konnte sich bei den Menschen, die ich liebte, nicht einprägen. Sie kannten ja nicht mal sein Gesicht genau.
   „Er heißt Luke.“
   „Ja. Luke. Ich wusste, dass es etwas Amerikanisches war.“
   Sie hob mein Kinn an, sodass ich ihr in die Augen blicken musste. Ihr ganzes Leben lag in diesen gewittergrauen Augen verborgen. Sie hatten unendlich viel gesehen.
   „Er ... er lässt sich nicht ein ...“
   „Auf dich?“
   Ich nickte.
   Großmutter nickte ebenfalls. Nachdenklich.
   „Dann ist er ein Trottel oder irgendwas stimmt nicht mit ihm.“
   In diesem Moment trat meine Mutter zu uns. Ich war froh darüber, denn ich hatte keine Lust, mich weiter von Großmutter ausfragen zu lassen. Ich stand auf und zwang mich zu einem Lächeln. Wir feierten ein Fest. All unsere Freunde waren gekommen. Das würde ich mir von Luke nicht verderben lassen.
   Doch der feine Schmerz in meinem Innern ließ sich nicht ignorieren. Der Schmerz, den die Liebe zu Luke mit sich gebracht hatte.

 

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