Er blieb noch ein paar Sekunden
reglos sitzen, bevor er die DVD herauszog und den Fernseher ausschaltete.
Die plötzliche Stille ließ seine Haut kribbeln und machte ihm erst richtig
bewusst, was er da eben erlebt hatte.
Er hatte sie gesehen.
Gehört.
Beinah sogar gefühlt.
Sie war ihm so nah gewesen, dass er
gemeint hatte, ihren Atem zu spüren. Er war zärtlich mit der Hand über den
Bildschirm gefahren. Nicht mehr lange, und er würde ihr von Angesicht zu
Angesicht gegenüberstehen.
Er schob die DVD in ihre Hülle
zurück und stellte sie zu den anderen, die ordentlich in einem eigens dafür
angeschafften Ständer untergebracht waren. Dann ging er in sein
Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Laptop ein.
In der Nacht. Rastlos unter deinem
Fenster. Stumm. Aber deine Worte IN MIR! Küss mich und liebe den
Schattengänger.
Etwas bewegte sich am Fuß der
Schreibtischlampe. Eine winzig kleine, pechschwarze Spinne. Interessiert
beugte er sich vor. Stupste sie mit dem Zeigefinger an. Blitzschnell zog sie
sich zusammen, stellte sich tot. Er hatte nicht gewusst, dass Spinnen sich
so verhalten. Er wusste überhaupt wenig über Spinnen. Und in diesem Moment
wurde ihm klar, dass er sie nicht ausstehen konnte. Er zerdrückte sie mit
dem Daumen. Wischte sich die Hand an der Hose ab.
Küss mich und liebe.
Wie schön das klang. Wie zärtlich.
Und bald schon würden seine Träume wahr werden. Bald.*
Sie trug die Post in den Wintergarten
und machte es sich in einem der Korbsessel bequem. Rechnungen, die Verträge
für die nächsten beiden Bücher, die Einladung zur Teilnahme an einem
Krimifestival, ein Schwung von Rezensionen und jede Menge Werbung.
Als letztes hielt sie einen edlen
Briefumschlag aus elfenbeinfarbenem Büttenpapier in den Händen, den ihr
Verlag an sie weitergeleitet hatte.
Imke Thalheim.
Noch nie hatte sie ihren Namen so
kunstvoll geschrieben gesehen. Jeder Buchstabe war ein kleines Wunderwerk
der Kalligraphie. Imke öffnete den Umschlag, indem sie den Zeigefinger
zwischen Klebefläche und oberen Rand schob, zog den Brief heraus und faltete
ihn auseinander.
Ich liebe dich.
Ich brauche dich.
Ich werde dich kriegen.
Darunter, wie ein Siegel aus
bräunlichem Rot, ein walnussgroßer Fleck aus einer getrockneten Substanz.
Imke erstarrte. Es war nicht nötig,
den Fleck analysieren zu lassen. Sie war sich sicher, dass er aus Blut
bestand. Der Verfasser dieses Briefs hatte statt einer Unterschrift Blut auf
das Papier tropfen lassen.
Angewidert warf sie Brief und
Umschlag auf den Tisch. Sie hatte das Bedürfnis, sich die Hände
abzuschrubben. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Ekel, Wut und Furcht
lähmten sie.
Sie schüttelte den Kopf. Wie oft
schon hatte sie Post von wildfremden Menschen bekommen, die in ihrem
Bedürfnis nach Mitteilsamkeit und ihrem Wunsch nach Nähe eine Grenze
überschritten hatten. Wie oft hatte sie versucht, bizarre, befremdliche
Gedankengänge nachzuvollziehen, die ihr ungefragt zugeschickt worden waren.
Auch das gehörte doch zu ihrem Alltag.
Warum jetzt diese heftige Reaktion?
Sie überwand sich, hob das Papier
mit spitzen Fingern auf, faltete es zusammen und schob es in den Umschlag
zurück. Mühsam erhob sie sich und legte den Brief auf die Konsole in der
Halle, um ihn später Tilo zu zeigen. Dann ging sie in die Küche, schäumte
sich die Hände mit Spülmittel ein, bearbeitete sie mit der Bürste, bis die
Haut brannte, und hielt sie danach minutenlang unter den klaren, kühlen
Wasserstrahl. Ganz allmählich fühlte sie sich besser.
Mit einem extra starken Kaffee
kehrte sie in den Wintergarten zurück, öffnete die Terrassentür und trat in
den Garten hinaus. Für Anfang März war es schon recht warm. Die letzten
Krokusse leuchteten im Gras und im Unterholz. Die Narzissen, die sich über
die Jahre ungestört vermehrt hatten, strahlten wie Hunderte kleiner Sonnen.
Weit und blau spannte sich der Himmel über dem Land.
Doch das Licht hatte urplötzlich an
Wärme verloren.
Ich liebe dich.
Ich brauche dich.
Ich werde dich kriegen.
Imke stellte die Tasse ab, dass der
Kaffee überschwappte, hastete ins Haus, schnappte sich Tasche und Mantel,
holte den Wagen aus der Scheune und brauste los.
Eine Flucht. Kopflos. Ohne Sinn und
Verstand.
Egal, dachte Imke. Hauptsache weg.
Sie wollte nicht grübeln. Vor allem
nicht über die Angst, die plötzlich in ihr wach geworden war. Eine Angst, so
kalt und schwer, dass sie Imke die Luft abschnürte.*
Wir hatten lange geschlafen und
ausgiebig gefrühstückt. Seit wir die Schule hinter uns hatten, wussten wir
unsere freie Zeit zu schätzen. Wir arbeiteten beide hart, Merle im Tierheim
und ich im St. Marien, wo ich mein freiwilliges soziales Jahr absolvierte.
Die Wochenenden waren uns heilig und wir erlaubten niemandem, sie ohne
triftigen Grund zu stören.
Merle hatte Brötchen geholt und die
Tageszeitung mitgebracht. Ich hatte den Tisch gedeckt und das Frühstück
vorbereitet. Unser Samstagsritual. Es hatte sich ganz von selbst so
eingespielt.
Jetzt tranken wir unseren dritten
Kaffee, hatten die Zeitung zwischen Brotkrümeln und Eierschalen ausgebreitet
und studierten gemeinsam den Immobilienteil. Smoky lag auf dem Sofa
hingestreckt, seine beiden Haremsdamen rechts und links neben sich. Er hatte
sich gut bei uns eingelebt und ließ sich von Donna und Julchen nach Strich
und Faden verwöhnen.
„Hör dir das an“, sagte Merle und
las vor, als hätte ich nicht selbst Augen im Kopf. „Birkenweiler, Bauernhof,
sechs Zimmer, Küche, Diele, Bad, Wohn-, Nutzfläche 220 Quadratmeter, 2. 700
Quadratmeter Garten, Scheune, Stallungen, 600 Euro warm plus Nebenkosten
plus zwei Monatsmieten Kaution.“ Sie verschluckte sich vor Aufregung.
„Zweitausendsiebenhundert Quadratmeter“, röchelte sie und versuchte, ihre
Stimme wieder in den Griff zu kriegen, indem sie die tränenden Augen aufriss
und sich mit der flachen Hand auf den Brustkasten klopfte.
Das war für Bröhler Verhältnisse
direkt geschenkt und bei weitem günstiger als alles, was wir uns bisher
angesehen hatten. Ich fragte mich, wo der Haken sein mochte. Wahrscheinlich
wellte sich das Linoleum auf den Böden oder es gab ein Plumpsklo auf dem Hof
oder das Haus war auf einer ehemaligen Müllkippe errichtet worden oder der
Schimmelpilz hatte es sich auf den Wänden gemütlich gemacht. Vielleicht
sogar alles zusammen.
Birkenweiler ist ein kleiner, alter
Ortsteil im Süden Bröhls, der ursprünglich selbstständig gewesen ist und
irgendwann eingemeindet wurde, ohne den dörflichen Charme vergangener Zeiten
zu verlieren. Es gibt dort noch eine Reihe von Bauern, die von der
Landwirtschaft leben und in ihren Hofläden eigene Erzeugnisse anbieten. Ihre
Kunden kommen aus dem gesamten Umland und manche haben sich mit der Zeit
unter die Alteingesessenen gemischt. Inzwischen gilt Birkenweiler als
Paradies für Stadtflüchter, Alternative, Rentner und junge Familien. Genau
die richtige Umgebung für eine Wohngemeinschaft.
„Zweitausendsiebenhundert“,
wiederholte Merle mit immer noch brüchiger Stimme.
„Viel zu schön, um wahr zu sein.“
Ich notierte die Telefonnummer des Maklers. „Irgendwas ist da faul.“
„Oder es ist ein Ringeltäubchen.“
„Ein was?“
„Ein Ringeltäubchen. Das sagen wir
bei uns zu Hause zu ganz besonderen Glücksfällen. Smoky zum Beispiel ist ein
Ringeltäubchen. Und du bist eins.“ Sie schmatzte mir einen Kuss auf die
Wange. „Nicht zu vergessen Mike, Ilka und Mina.“
Mit Mike war unsere WG eigentlich
komplett gewesen. Doch dann war nach einer Weile seine Freundin Ilka
dazugekommen. Und seit wir Mina kennen gelernt hatten, war klar, dass wir
uns nach einer neuen Unterkunft umsehen mussten, die für uns alle Platz
bieten würde.
Ilka und Mike, die sich nach dem
Abi für ein Jahr Auszeit entschieden hatten, befanden sich noch immer auf
ihrer Reise durch Brasilien. Mina hatte sich für eine langwierige
Psychotherapie in eine Klinik zurückgezogen. Merle und ich hielten so lange
die Stellung in Bröhl.
Zu fünft benötigten wir jede Menge
Platz. Die großen Wohnungen jedoch waren heiß begehrt und gingen meistens
unter der Hand weg. Also hatten wir beschlossen, lieber nach einem Haus zu
suchen. Das war uns sowieso viel sympathischer. Häuser hatten einen Garten.
Man musste keine Rücksicht auf andere Mieter nehmen. Und niemand würde sich
über die Katzen beschweren.
Falls wir überhaupt einen Vermieter
fanden, der keine Vorurteile gegen Wohngemeinschaften hatte. Und gegen
Katzen.
Wir waren schon auf die
unglaublichsten Typen gestoßen. Und hatten die scheußlichsten Bruchbuden
besichtigt. Sehr zum Kummer meiner Mutter, die nur zu gern bereit gewesen
wäre, uns mit einem der angesagten Makler zusammenzubringen, die in der
oberen Liga spielten und Leute wie uns im normalen Leben gar nicht zur
Kenntnis nahmen.
Aber dafür reichten unsere Finanzen
nicht aus.
„Geld ist doch kein Problem“, hatte
meine Mutter auf meinen Einwand hin erwidert.
Da hatte sie Recht. Ihre Krimis
lagen stapelweise auf den Bestsellertischen der Buchhandlungen. Nach jeder
Neuerscheinung wurde sie in den Talkshows herumgereicht. Imke Thalheim und
ihre Thriller waren Kult. Der Rummel um ihre Person war sogar meiner Mutter
selbst längst zu viel geworden.
„Wirklich, Jette. Ich überlege
schon seit einiger Zeit, ein Haus zu kaufen. Als Geldanlage, verstehst du?
Und das könntet ihr dann doch von mir ... sozusagen als eurer Vermieterin
...“
Ich hatte sie nicht ausreden
lassen. Geld war tatsächlich nicht das Problem meiner Mutter. Es war mein
Problem. Ich hatte immer nur so viel von ihr angenommen, wie ich zum Leben
brauchte. Es war eine Frage des Stolzes. Der Unabhängigkeit. Des
Erwachsenseins.
Inzwischen konnte ich mich allein
durchschlagen. Und mit Schickimickimaklern hatten Merle und ich sowieso
nichts am Hut.
Der Makler, der den Bauernhof
anbot, hieß Heiner Kerres. Er hatte die Finger in beinahe jedem
Immobiliengeschäft stecken, das in Bröhl und Umgebung abgewickelt wurde.
Sein Ruf war übel, denn er scheute nicht davor zurück, noch die baufälligste
Hütte zu vermitteln, solange sie aus eigener Kraft aufrecht stehen konnte.
Ich beschloss, dass wir es uns
nicht leisten konnten, wählerisch zu sein, griff nach dem Telefon und tippte
die Nummer ein. Gleichzeitig wappnete ich mich, denn es waren immer hundert
Erklärungen nötig, bevor man überhaupt so weit kam, ein Haus besichtigen zu
dürfen.
„Maklerbüro Kerres und Söhne, Alice
Morgenstern am Apparat, was kann ich für Sie tun?“
Alice. Sollte jemand mit einem
solchen Namen nicht lieber Schauspielerin sein oder Sängerin? Alice.
Morgenstern. Und eine Stimme wie Blütentau.
Ich hatte mir inzwischen ebenfalls
einen Spruch zugelegt, den ich jedes Mal mit leichten Variationen abspulte.
„Jette Weingärtner, guten Tag. Ich melde mich auf Ihre Annonce im Bröhler
Stadtanzeiger. Sie bieten da ein Haus in Birkenweiler zur Miete an. Ist es
noch frei?“
Es war tatsächlich noch zu haben.
Ich kam gleich auf die kritischen Punkte zu sprechen und Merle beobachtete
gespannt mein Gesicht.
„Eine Wohngemeinschaft?“, hakte
Alice Morgenstern nach. „Wie viele Personen?“
„Fünf“, antwortete ich und
beschloss, die Katzen erst bei der Besichtigung zu erwähnen. Falls eine
Besichtigung überhaupt zustande käme.
„Studenten?“, fragte Alice.
„Noch nicht“, antwortete ich. „Wir
haben gerade Abi gemacht.“
Merle hatte die Hände gefaltet und
sah mich beschwörend an. Für sie als Tierschützerin wäre ein Bauernhof die
Erfüllung eines Traums. Doch zunächst mussten noch die finanziellen Aspekte
beleuchtet werden.
„Mit wem würde der Mietvertrag
gegebenenfalls geschlossen?“, fragte Alice.
„Am liebsten mit uns allen.“
„Darauf wird sich der Vermieter
nicht einlassen. Das wird zu kompliziert.“
„Dann mit mir“, beschloss ich
kurzerhand.
„Gut.“ Alice machte eine kleine
Pause, in der ich Papier rascheln hörte. „Wann hätten Sie denn Zeit für eine
Besichtigung?“
„Am liebsten sofort“, sagte ich,
und Merle schlug die Hände vor den Mund, um nicht vor Begeisterung
loszukreischen.
„Fünfzehn Uhr?“, fragte Alice.
„Perfekt“, entgegnete ich mit dem
letzten Rest Selbstbeherrschung, den ich noch aufbringen konnte. Ich schrieb
die Adresse auf, beendete das Gespräch und stieß einen Freudenschrei aus,
der alle drei Katzen unter das Sofa flüchten ließ.
Merle sprang auf und umarmte mich.
Wir tanzten durch die Küche. Wir lachten und kriegten uns gar nicht mehr
ein. Daran, dass mit dem Angebot etwas nicht stimmen könnte, dachten wir
keine Sekunde länger.
Er liebte ihre Bücher. |