Lautlos und ohne Licht glitt der graue Mercedes heran und
blieb stehen. Es war kurz nach acht. Feiner Nebel zog seine Schleier um die
Laternen. Die geparkten Wagen waren vereist. Reif lag auf den Dächern und
auf den Ästen der Bäume, kaum zu erkennen, eher zu erahnen.
Die Fenster der Häuser sahen aus wie gelbe Augen. Der Blick dieser
Augen war kühl und unbeteiligt.
Ein Hund bellte. Eine Radiostimme drang aus einem trotz der Kälte
halb offen stehenden Garagentor. Eine Tür knallte zu. Entfernt war das
Signal eines Notarztwagens, der Polizei oder der Feuerwehr zu hören. Der
Rauch aus den Schornsteinen wurde zu Boden gedrückt. Es würde ein schwerer,
verhangener Tag werden.
Der graue Mercedes wurde von niemandem bemerkt. Keinem fiel auf,
dass ein Mann darin saß, der aufmerksam eines der Häuser beobachtete. Er saß
da, dunkel und still hinter den getönten Scheiben, reglos, wie aus Stein.
Und weil ihn niemand bemerkte, war es, als wäre er überhaupt nicht da.
*
Ilka fühlte sich frisch und ausgeruht. Die Zwillinge hatten
trotz ihrer heftigen Erkältung durchgeschlafen und sie nicht, wie in den
Nächten davor, abwechselnd durch Hustenattacken wach gehalten. Nach einem
flüchtigen Blick aus dem Fenster hatte sie sich für den dicken
Rollkragenpulli entschieden. Er war das letzte Geschenk ihrer Mutter und sie
genoss jeden einzelnen Tag, an dem sie ihn trug. Manchmal meinte sie, noch
einen Hauch von dem Parfüm in ihm wahrzunehmen, das ihre Mutter immer
benutzt hatte. Doch dann sagte sie sich, dass das unmöglich war. Vielleicht
hatte Tante Marei ja Recht, wenn sie behauptete, sie habe eine blühende
Phantasie.
Der Pullover war rostrot und passte wunderbar zu Ilkas dunkelroten
Haaren. Herbstmädchen hatte die Mutter sie immer genannt. Sie hatte
das Wort schön gefunden. Und sich selbst. Wenigstens dann und wann.
Inzwischen war alles anders geworden. Das Herbstmädchen war Erinnerung.
Erinnerungen aber ließ Ilka längst nicht mehr zu.
Bevor sie das Licht ausmachte, sah sie sich prüfend um. Alles in Ordnung.
Das Tagebuch war versteckt. Es lag nichts herum, was niemand finden durfte.
Ilka lief die Treppe hinunter. Tante Marei saß vor den Frühstücksresten
und las Zeitung. Die Zwillinge waren in die Schule gegangen. Zwei Tage
Schonzeit mussten bei einer Erkältung ausreichen, da war Tante Marei eisern.
Solange man den Kopf nicht unterm Arm trug, hatte man seine Pflicht zu
erfüllen. Basta.
„Ich bin dann weg.“
Ilka schlüpfte in die Lammfelljacke. Sie hatte sie in einem
Secondhand-Laden günstig erstanden und liebte sie heiß und innig.
„Willst du denn nicht frühstücken?“
Manchmal hatte Tante Mareis Stimme diesen klagenden Unterton. Als wäre
alles, was man tat oder nicht tat, gegen sie gerichtet. Dabei war sie
eigentlich eine starke, zupackende Frau. Wehleidigkeit passte gar nicht zu
ihr.
„Bin spät dran. Ich nehm mir was mit.“
Ilka inspizierte die Obstschale, entschied sich für zwei Bananen,
verstaute sie in ihrem Rucksack und gab Tante Marei einen Kuss auf die
Wange.
„Kind! Du bist so dünn geworden!“
Tante Marei hatte Ilka den Arm um die Hüften gelegt und sah besorgt zu
ihr auf. In ihrem Blick steckten viele Fragen.
„Heute Abend hau ich rein“, sagte Ilka. „Ehrenwort.“
Tante Marei sah ihr mit einem kleinen Lächeln nach. Es gab Ilka einen
Stich. Fast war es, als säße ihre Mutter da am Tisch.
Blühende Phantasie, dachte sie und wickelte sich den Schal um den Hals.
Es stimmt schon. Ich sollte besser mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben
und nicht überall Gespenster sehen.
Sie ging durch den unaufgeräumten Flur und spürte wieder, wie sehr sie
dieses Haus liebte. Es war weder besonders schön noch irgendwie
außergewöhnlich, nicht modern und nicht so alt, dass es voller Geschichten
gesteckt hätte – es war ein Haus wie viele in der Siedlung. Aber sie war
darin willkommen. Das machte es zu etwas Einzigartigem. Es war ihr Zuhause,
immer bereit, sie aufzunehmen und zu beschützen. War es nicht das, was ein
Haus tun sollte? War es nicht das, wonach sie sich gesehnt hatte? Ruhe,
Schutz und Geborgenheit. All das bekam sie durch das Haus. Hier fühlte sie
sich in Sicherheit. Zum ersten Mal seit langem.
Ilka schloss die Haustür, spürte die Kälte auf dem Gesicht und sog tief
die Luft ein. Das Bellen eines Hundes von irgendwoher klang wie ein
Versprechen. Das Leben war schön. Fast war sie bereit, daran zu glauben.
*
Die Scheiben waren beschlagen. Das war gut so. Es hielt
neugierige Blicke ab. Vorsichtig wischte Ruben mit den Fingern über die
Windschutzscheibe. Und da sah er sie. Atemlos beugte er sich vor.
Sie war wunderschön. Selbst auf diese Entfernung konnte man das erkennen.
Ihr Gesicht schimmerte hell im Licht der Laterne, das Haar hatte sie
(achtlos, das wusste er) unter eine Wollmütze gestopft. Er mochte es lieber,
wenn sie es auf die Schultern fallen ließ. Sie hatte prächtiges Haar, das es
nicht vertrug, gebändigt zu werden.
Ruben verstand nicht, warum sie ein solches Leben gewählt hatte. Ein
kleines, nichts sagendes Spießerhaus, umgeben von anderen Spießerhäusern.
Wie wertlose Glasperlen an einer Schnur zogen sie sich an der Straße
entlang, eingebettet in schmale Vorgärten, in denen zurechtgestutzte
Sträucher vom kühlen Licht chromfarbener Solarlampen beleuchtet wurden.
Was hatte sie verloren in einer Nachbarschaft mit gerafften Tüllgardinen
vor den Fenstern? Mit pedantisch aufgereihten Mülltonnen, eine schwarz, eine
gelb und eine blau? Wo nichts und niemand aus der Reihe tanzte, nicht mal
die gefleckte Katze da, die vor einer der Türen höflich, aber vergeblich um
Einlass bat, statt sich woanders ein verständnisvolleres Zuhause zu suchen.
Sein Handy klingelte. Er sah auf das Display. Die Architektin. Das hatte
Zeit. Er wollte jetzt nicht gestört werden. Von niemandem. Er schaltete das
Handy aus. Alles, jedes Geräusch war eine Störung, wenn er in dieser
Stimmung war, an gestern dachte, an heute und an morgen.
Ilka holte ihr Rad aus der Garage. Klein und verloren sah sie aus im
ersten grauen Licht, das über die Dächer kroch und sich in den kahlen Ästen
der Bäume verfing. Als sie an ihm vorbeiradelte, wandte er den Kopf ab. Sein
Herz klopfte zum Zerspringen.
Er schloss die Augen. Allmählich beruhigte er sich wieder. Er würde ihr
nicht nachfahren. Das tat er nie. Er hatte es sich abgewöhnt, seinen
Gefühlen nachzugeben. Kühl und beherrscht musste er bleiben, dann würde
alles gut werden.
Eine Weile starrte er weiter das Haus an, in dem sie wohnte. Nummer
siebzehn. Ilkas Lieblingszahl. Doch das war natürlich Zufall gewesen. Obwohl
sie es vermutlich für eine Fügung des Schicksals gehalten hatte. Sie
vertraute gern auf das Schicksal, die Sterne oder höhere Mächte.
Hinter dem Küchenfenster bewegte sich ein Schatten. Ruben presste die
Zähne zusammen. Seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad. Nein. Er
durfte sich nicht gehen lassen. Es war wichtig, dass er einen klaren Kopf
behielt. Seine Gefühle hatten ihm schon so oft einen Streich gespielt. Das
durfte nicht noch einmal passieren.
Ilka. Er würde nur an sie denken. An nichts anderes.
Ein Lächeln huschte über sein hageres Gesicht. Er schob die Brille
zurück, die er zum Autofahren brauchte. Ilka. Er liebte ihren Namen. Und er
war froh, dass wenigstens er ihm geblieben war. Alles andere hatte sie ihm
genommen, damals, als sie über Nacht verschwunden war und sich in diesem
spießigen Albtraum verschanzt hatte.
Was für ein Leben führte sie hier? Falsch war es und verlogen. Ein Leben,
das nicht zählte, weil es nicht ihr wirkliches Leben war. Sie konnte
unmöglich glücklich sein. Das spielte sie den anderen doch nur vor.
Merkte jemand, dass sie eine Betrügerin war? Spürte man es, wenn man vor
ihr stand und ihr in die Augen blickte? Oder glaubten ihr die Menschen, die
sie kannten?
Alle hatten Ilka stets geglaubt. Immer. Auch er selbst. Nur zum Schluss,
da waren die Zweifel übermächtig geworden. Aber er hatte zu spät reagiert
und nichts mehr ändern können.
Er nahm den Schwamm aus dem Ablagefach in der Tür und wischte damit über
die Windschutzscheibe. Dann startete er den Motor. Langsam fuhr er los. Bis
zur nächsten Ecke ohne Licht. Er würde seinen Fehler korrigieren. Und darauf
achten, keinen zweiten zu machen. |