Im ersten Morgenlicht entdeckte sie voller Entsetzen, dass eine Spinne ihr Netz vor dem Kellerfenster gewoben hatte. An den fein gesponnenen Fäden hingen Tropfen von Morgentau und funkelten im zögernden Licht der Sonne.
Obwohl die Schönheit des Anblicks ihr den Atem raubte, überwog das Grauen. Wie die Fliege, die bald in diesem Netz zappeln würde, war sie hier gefangen. Niemand würde sie finden.
Nach der langen Nacht, die still gewesen war wie ein tiefer See, hörte sie nun die ersten Geräusche. Das Haus wurde wach. Im Zwinger bellten die Hunde.
Sie kauerte auf der schmutzigen Matratze, die sich klamm anfühlte. Von der Wand aus kroch die Kälte in ihren Körper, doch sie konnte es nicht ändern. Sie musste sich irgendwo anlehnen, weil sie es nicht mehr schaffte, sich aus eigener Kraft aufrecht zu halten.
Wie lange war sie schon hier?
Sie hatte es vergessen. In ihrem Kopf war Leere. Auch in ihrem Herzen.
Sie war am Ende.
Nicht mehr lange, und sie würde seine herrische Stimme hören, wie sie dem Kläffen der Hunde Einhalt gebot. Sie würde instinktiv nach einem Versteck Ausschau halten, obwohl sie wusste, wie sinnlos das war.
Die Tür war verschlossen, das Fenster weit oben in der Mauer eingelassen. Außer der stockfleckigen, verdreckten Matratze, dem verbeulten Blecheimer, der ihr das Klo ersetzte, und ein paar abgestellten Gegenständen, wie sie in den meisten Kellern zu finden sind, gab es nichts in diesem Raum. Nur kahle Wände, bei deren Anblick sie bereits zu frieren begann.
Der Hunger hatte aufgehört, in ihren Eingeweiden zu rumoren. Er hatte sich in eine zitternde Schwäche verwandelt, die ihre Bewegungen verlangsamte wie die Bewegungen einer alten Frau.
Das Bellen der Hunde veränderte sich. Es verwandelte sich in ein Jaulen, dann in ein Winseln. Polternde Schritte. Das Quietschen des Zwingertors. Seine Stimme. Dann waren die Hunde still.
Metall klapperte. Wahrscheinlich gab er ihnen Futter.
Die Tiere machten den Eindruck, als würde er sie gut behandeln.
Tat er das?
Behandelte er sie gut?
Wieder quietschte das Zwingertor. Die Schritte entfernten sich.
Ein neuer Tag hatte begonnen.
Mühsam drehte sie sich zur Seite und ritzte mit dem Daumennagel eine Kerbe in den brüchigen Kalk der Wand. Erst nachdem sie das getan hatte, fiel ihr auf, dass sie damit ihre Gefangenschaft akzeptierte. Und sich darauf eingestellt hatte, dass sie dauern würde. Rasch wandte sie sich ab. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
Erschöpft schloss sie die Augen. Vielleicht würde er zuerst mit einem der Hunde weggehen, bevor er zu ihr kam. Vielleicht würde er das Auto nehmen. Vielleicht unaufmerksam sein. Einen Unfall haben.
Sterben ...
Und nie wieder in den Keller kommen.
Nie wieder.
1.
Beim Laufen stellte ich mir immer vor, hinter den Feldern sei das Meer. Weite bis zum Horizont, hier und da eine Scheune aufs Grün getupft, knorrige Obstbäume entlang der Wege, vom ständigen Wind gegen den Strich gebürstet.
Im Sommer und im Herbst kommen die Leute aus der Stadt hierher und ernten die Äpfel, Birnen und Pflaumen, die niemandem gehören und allen. Viele schlagen die Früchte brutal mit Stöcken von den Zweigen, während auf der Erde das Fallobst vergammelt, umsurrt von betrunkenen Wespen.
Doch noch war April, und das Wetter wechselte von einem Moment auf den andern, so, wie es sein muss.
Heute brauchte ich mir das Meer nicht vorzustellen, denn es umgab mich von allen Seiten. Die Felder waren kilometerweit mit durchsichtiger Folie abgedeckt, um das Reifen der Erdbeerpflanzen voranzutreiben. In regelmäßigen Abständen war sie mit Sandsäcken beschwert, um zu verhindern, dass sie davonflatterte.
Der Wind trieb Wellen in das künstliche Meer, das so intensiv im Sonnenlicht glitzerte, dass ich fast meinte, Salz auf den Lippen zu schmecken und die Schreie der Möwen hoch oben in der Luft zu hören. Er blies mir das Haar aus dem Gesicht, kühlte den Schweiß auf meiner Haut und erzeugte dieses Glücksgefühl in mir, nach dem ich süchtig geworden war. Es ließ mich so beschwingt laufen, dass meine Füße den Boden kaum zu berühren schienen.
Nach dem langen Winter freute ich mich über jeden Sonnenstrahl. Ich zog die Jacke aus, band sie mir um die Hüften und schlug den Weg zu dem kleinen Wäldchen ein, das ich jedes Mal umrundete, ohne es je zu betreten.
Etwas daran war mir unheimlich. Es war, als würden sämtliche Geräusche in seiner Nähe verstummen. Es gab nur noch die Bäume und Sträucher, seltsam unberührt von dem Wind, der über die Felder fegte, das Geräusch meiner Schritte und mein Keuchen, das ich vergeblich zu unterdrücken versuchte.
Wie war dieser Flecken inmitten der Felder entstanden? Hatte ihn jemand angelegt? Gab es darin verborgen ein Gebäude, das man von außen nicht sehen konnte? War es ehemaliges militärisches Gebiet? Hatte man hier einen Bunker gebaut?
Aber warum gab es dann keinen Zaun? Keine Mauer? Und wieso wirkte es trotzdem so abgeschottet?
Es verschluckte den Tag und das Licht.
Sogar den Gesang der Vögel.
Schaudernd beschleunigte ich das Tempo und machte mich auf den Heimweg.
Unser Bauernhof war das schönste Haus in Birkenweiler. Ich dachte es jedes Mal, wenn ich es von weitem erblickte. Seit wir in diesen Stadtteil Bröhls gezogen waren, hatte ich den Schritt noch keinen Tag bereut. Im Gegenteil. Hier befand sich alles, was mir wichtig war.
Ich streifte die durchgeschwitzten Sachen ab und stellte mich unter die Dusche. Während mir das Wasser auf den Kopf prasselte und über den Körper rann, spürte ich, wie sich die Nervosität, die ich beim Laufen komplett verloren hatte, leise wieder meldete.
Zehn Minuten später war ich angezogen und betrat mit feuchten Haaren Lukes Zimmer, das noch vor kurzem Teil des Stalls gewesen war.
„Möchtest du, dass ich dich begleite?“, fragte Luke und hielt mitten in der Bewegung inne, einen schweren Umzugskarton mit Büchern vor dem Bauch. Die Sehnen an seinen Unterarmen traten von der Anstrengung hervor, und ich merkte wieder, wie sehr ich alles an ihm liebte, selbst den Schweiß auf seiner Stirn.
„Besser nicht.“ Ich ließ den Blick über das Chaos wandern. „Mach lieber hier weiter.“
„Die Arbeit läuft mir nicht weg“, widersprach er. „Ich hab noch den ganzen Tag vor mir.“
Und morgen, dachte ich glücklich.
Und übermorgen.
Und überübermorgen.
Ab jetzt haben wir alle Zeit der Welt.
Ich setzte mich auf eine der an der Wand entlang gestapelten Kisten und beobachtete, wie er den Bücherkarton auf einen der übrigen Kartons wuchtete. Er richtete sich auf und rieb sich mit dem Handrücken über die Schläfe. Ein Schmutzstreifen blieb zurück.
„Das muss ich allein hinkriegen.“ Ich widerstand der Versuchung, zu ihm zu laufen und ihn zu küssen, ihm den hinreißenden Schmutzstreifen abzuwischen und ihn noch einmal zu küssen. „Es gibt Dinge, dabei kann einem keiner helfen.“
„Ich will ja nicht mit rein.“ Luke stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand und als Ablagefläche für alles Mögliche diente, hauptsächlich für das Werkzeug, das er benötigte, um seine Möbel aufzubauen. Er sah mich auf diese Weise an, die meine Knie weich werden ließen. „Ich will dich nur hinfahren und auf dich warten, bis du fertig bist. Und dich dann zu einem Eis einladen.“
„Wünsch mir einfach Glück“, bat ich ihn, fest entschlossen, mich nicht umstimmen zu lassen. Das hatten Merle und Mike bereits versucht. Anscheinend waren sie alle versessen darauf, den Chauffeur für mich zu spielen. Ich glitt von der Kiste und trat auf Luke zu. „Spuckst du mir mal über die Schulter?“
Er zog mich an sich und küsste mich, bevor er neben meinem Ohr dreimal „toitoitoi“ sagte.
An der Tür drehte ich mich noch einmal um. Er stand ein wenig verloren zwischen seinen Sachen, als hätte er vergessen, was er als Nächstes tun wollte.
„Du schaffst das.“ Er reckte den Daumen in die Luft. „Wenn nicht du – wer dann?“
Da war ich mir gar nicht so sicher. Ich hatte Isa den Grund für meinen Besuch nicht verraten, hatte sie nur gebeten, vorbeikommen zu dürfen, um etwas mit ihr zu besprechen. Falls sie verwundert gewesen war, so hatte sie mich das nicht spüren lassen. Möglicherweise, dachte ich jetzt wieder, lacht sie sich über meine Bitte tot oder sie wirft mich nach dem ersten Satz raus.
In der Küche saß Mike bei einem späten Frühstück. Er hatte die ganze Nacht in seiner Werkstatt gesägt und geschraubt. Mittlerweile hatte sich herumgesprochen, wie gut er arbeitet. Er hatte ein paar schöne alte Möbelstücke für einen stinkreichen Typen in Bad Godesberg restauriert. Seitdem konnte er sich über mangelnde Aufträge nicht beklagen.
„Lässt du die Uni heute sausen?“, fragte er.
Ich holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank und füllte ein Glas bis zum Rand. Nachdem ich die Hälfte getrunken hatte, setzte ich mich zu Mike an den Tisch. Schwitzwasser bildete sich am Glas. Ich nahm noch einen Schluck.
„Hallo?“ Mike beugte sich zu mir vor. „Jemand zu Hause?“
„Entschuldige. Was hast du gefragt?“
„Ob du heute blaumachst.“
„Nein. Nach dem Gespräch mit Isa fahr ich direkt nach Köln.“
„Nervös?“
„Tierisch.“
„Kann ich mir vorstellen.“ Mike betrachtete das Brötchen in seiner großen Hand, als überlegte er, ob und wie er hineinbeißen sollte. Schließlich legte er es unverrichteter Dinge auf den Teller zurück. „Und du willst wirklich nicht ...“
„Wirklich nicht.“ Ich strich ihm über die Schulter, trank den Saft aus und ging in mein Zimmer, um meine Tasche zu holen.
Ich hätte jetzt gern ein paar Worte mit Merle gewechselt, aber die war längst im Tierheim. Für heute standen Impfungen an, zu denen die Tierärztin ins Heim kam, weil der Transport mehrerer Tiere einfach zu schwierig war und der einzelner Tiere zu kostspielig. Den Gedanken, sie kurz anzurufen, verwarf ich, weil ich wusste, wie sehr die Mitarbeiter an den Arzttagen rotierten.
Die Sonne schien, und der Himmel war zum ersten Mal so blau, dass man fast schon den Frühling riechen konnte. Erwartungsvoll stieg ich in meinen Peugeot. Ich hatte große Lust, mit offenem Verdeck zu fahren, doch dazu war es noch zu kalt. Stattdessen machte ich das Fenster auf und drehte das Radio so laut, dass ich die Vibration der Bässe bis in die Fingerspitzen spüren konnte.
An einer Ampel versuchte ein Typ in einem Land Rover, Kontakt mit mir aufzunehmen. Er schob sich die bombastischste Sonnenbrille ins Haar, die ich je gesehen hatte, kniff die Augen zusammen und schickte mir ein Lächeln rüber, das womöglich auf Frauen wirkte, die auf dicke Brieftaschen standen. Mich ließ es kalt, und als die Ampel auf Grün sprang, schoss sein Wagen beleidigt davon.
Mein Handy klingelte. Ein Blick auf das Display zeigte mir, dass meine Mutter versuchte, mich zu erreichen. Sie rief ab und zu morgens an, um mir einen schönen Tag zu wünschen. Ich hatte beschlossen, diese Angewohnheit nicht als Einmischung in mein Leben zu betrachten, sondern einfach als freundliche Geste.
Doch jetzt konnte ich das Gespräch unmöglich annehmen. Ich würde mich verplappern, und sie würde mich von meinem Vorhaben abbringen wollen. Es war besser, das Treffen mit Isa abzuwarten, bevor ich mich unter die Argusaugen meiner Mutter traute, die offenbar die Fähigkeit besaßen, mich selbst durchs Telefon zu beobachten.
Ich fand eine Lücke auf dem Parkstreifen vor dem Polizeigebäude, atmete tief durch und stieg aus. Isa wartete vor der Tür auf mich, wie sie es versprochen hatte. Sie lotste mich an dem telefonierenden Beamten an der Pforte vorbei und führte mich über einen schwarzen Fliesenboden, der glänzte wie ein unbewegter See in der Unterwelt.
„Fahrstuhl oder Treppe?“, fragte sie. „Mein Büro ist ganz oben.“
Das waren sechs oder sieben Stockwerke, wenn ich draußen richtig hingeguckt hatte.
„Treppe.“
„Prima.“ Sie wirkte erleichtert. „Dieses ewige Sitzen ist die Hölle.“
Sie nahm die Stufen locker. Erst in der dritten Etage beschleunigte sich ihr Atem ein wenig, aber sie konnte sich immer noch mit mir unterhalten, ohne nach Luft zu schnappen.
„Sie machen Sport, stimmt’s?“ Prüfend musterte sie mich.
„Ja. Ich laufe.“
„Ich auch.“ Sie nickte mir anerkennend zu. „Schon immer?“
„Absolut nicht. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich damit angefangen habe. Irgendwann hab ich es ausprobiert, und jetzt bin ich süchtig danach.“
„Kenn ich. Wenn ich nicht zum Laufen komme, bin ich ungenießbar. Dann hält es keiner mit mir aus.“
Wir hatten den obersten Treppenabsatz erreicht und gingen einen Flur entlang, hinter dessen Türen man Stimmen hörte und das Klingeln von Telefonen. Niemand begegnete uns. An einem Kaffeeautomaten blieb Isa stehen.
„Kaffee, Cappuccino oder Kakao?“ Sie zog zwei Münzen aus ihrer Hosentasche. „Sie haben die Wahl. Aber irgendwie schmeckt sowieso alles gleich.“
„Cappuccino, bitte.“
Isa schob zwei dunkelbraune Plastikbecher ineinander, bevor sie sie unter die Düsen stellte. „Sie sind sonst so heiß, dass man sie kaum anfassen kann“, erklärte sie. Vorsichtig balancierte sie einen Cappuccino und einen Kaffee zu der hintersten Tür und drückte mit dem Ellbogen die Klinke runter.
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