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tage.jpg (51565 Byte)Leseprobe aus: Die blauen und die grauen Tage

Sie waren immer noch nicht da. Still und irgendwie feierlich lag die Straße im Nachmittagslicht. Die Kelche der Tulpen in den Vorgärten waren weit geöffnet, Ginster und Rhododendron standen in voller Blüte, Vergißmeinnicht wuchs in dichten Büscheln, und die Hecken verströmten seit Tagen den Duft nach Sommer, Hitze und Staub. In den Gärten krakeelten die Vögel, im Blau darüber bauschten sich Wolken, alles war für Omas Ankunft bereit.

Evi schloß die Haustür. Sie schlenderte ins Wohnzimmer zurück, ließ sich in einen Sessel fallen und stöhnte gelangweilt vor sich hin.

Vera sah von ihrem Tagebuch auf und stieß gereizt den Atem aus. „Bitte, Evi! Schneid dir die Fingernägel, wasch dir die Haare, mach Kopfstand, geh spazieren oder rüber zu Tom. Tu irgendwas! Aber hör auf mit diesem nervenden Herumgetigere und Gestöhne. Wie soll man sich denn da konzentrieren?“

Evi stöhnte noch einmal, jetzt erst recht. Dieses blöde Tagebuch! Vera war regelrecht süchtig danach. In jeder freien Minute kritzelte sie darin herum. Wenn sie ausnahmsweise mal nicht damit beschäftigt war, lag es unter ihrer Wäsche in der Kommode versteckt. Als wäre das noch für irgendwen ein Geheimnis! Wahrscheinlich stand auch eine Menge über Oma darin. Vera hatte sich bis zuletzt erbittert dagegen gewehrt, sie aufzunehmen. Die Vorstellung, ihr Leben umkrempeln zu müssen, um mit einer alten, dazu noch verwirrten Frau zusammenzuleben, war ein Horror für sie. Aber die Eltern hatten sich durchgesetzt.

Evi stöhnte ein letztes Mal, laut und vernehmlich, stand dann auf und ging in die Küche. Diese Warterei machte sie fertig.

„Wo ist Vera?“ fragte die Mutter. Sie schüttete Kirschen aus einem Einweckglas in ein Sieb, um sie abtropfen zu lassen.

„Im Wohnzimmer“, sagte Evi. „Sie schreibt mal wieder.“

„Sag ihr, sie soll den Tisch decken.“ Die Mutter steckte sich eine Kirsche in den Mund und leckte den Saft von den Fingern. „Und du könntest die Sahne schlagen.“ Sie öffnete die Kühlschranktür, zog einen Sahnebecher heraus und drückte ihn Evi in die Hand. Er war eiskalt. Die Härchen an Evis Armen richteten sich auf.

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