Zurück

fee.jpg (27038 Byte)Der Maler, die Stadt und das Meer

Der Maler hatte lange in der großen Stadt gelebt. Er hatte die Straßen gemalt, die Winkel und Gassen, die Häuser und die Hinterhöfe. Die kleinen Läden hatte er gemalt, ihre von der Sonne gebleichten Markisen und das vor den schmuddeligen Schaufenstern ausgestellte Obst und Gemüse. Die Kaufhäuser hatte er gemalt, den bunten Wochenmarkt und die schwarzen Fabriken.

Er hatte die Straßencafés mit den Sonnenschirmen und den flatternden Tischtüchern gemalt, die feinen Lokale und die schummrigen Kneipen, die Autos, die Busse und die Straßenbahnen, den Bahnhof und die Züge. Er hatte den Rauch gemalt, der aus den Schornsteinen quoll, die Kastanienbäume und die runden Blumenbeete im Stadtpark, den Fluß mit den Ausflugschiffen und Schleppkähnen, das von Vogeldreck bekleckerte Kriegerdenkmal und den Zoo.

Der Maler hatte die Plakatwände gemalt und die Kinos, die Oper und das Gefängnis. Er hatte die Straßenmusikanten in der Fußgängerzone gemalt, die Kinder auf den Spielplätzen und die Stadtstreicher auf den Bänken. Er hatte die Schoßhündchen gemalt und die Straßenköter, die trägen Stubenkater hinter den Fensterscheiben, die räudigen Katzen an den Abfalltonnen und die geschwätzigen Tauben auf den Plätzen und Dächern.

Er hatte den Wald vor der Stadt gemalt und die Felder ringsum, das Leuchten der Rapsblüte, das goldbraune Wogen der Sonnenblumen und das bescheidene Grün des Wintergetreides. Er hatte den See gemalt, den Bach und die Müllkippe.

Der Maler hatte das alles gemalt. Er war darüber alt geworden, sein dichter dunkler Bart dünn und schieferwolkengrau, und er dachte: Was male ich jetzt?

Er hatte vom Meer erzählen hören.

Doch der Maler war ein armer Mann. Er verdiente kaum Geld genug für Leinwand und Farben, für Kleidung, die winzige Wohnung und das, was er zum Essen brauchte. Wie sollte er da reisen, um zu sehen, ob das Meer wirklich so war, wie man sagte, endlos weit und überwältigend schön? Und er war stolz. Er hätte sich niemals Geld schenken lassen, nicht einmal von mir, obwohl wir Freunde waren.

Eine Zeitlang begnügte er sich damit, die Reise im Kopf zu machen. Er schaute sich Bücher an, in denen das Meer abgebildet war, und blätterte in den Katalogen der Reisebüros. Er hörte den Leuten zu, die schon dort gewesen waren. Und träumte sich fort.
Doch dann war ihm das nicht mehr genug. Eine heftige Sehnsucht packte ihn und ließ ihn nicht mehr los. Er war besessen von seinem Traum, fühlte sich fiebrig und fand kaum noch Schlaf, und das einzige Heilmittel war das Meer.

Der Maler sparte. Er aß nur noch Kartoffeln und Brot, trank nur noch Wasser. Er schnitt sich die Haare und stutzte sich den Bart selbst und benutzte niemals den Bus oder die Straßenbahn. Er verkaufte das Fahrrad und das Teeservice, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Er verkaufte den Schrank, das Sofa, die Bücher, das handgeschnitzte Vertiko und seine Armbanduhr. Und eines Abends saß er in der nun fast leeren Wohnung und zählte sein Geld.
Es reichte aus.

Der Maler kaufte sich eine Fahrkarte, verabschiedete sich von mir, und am nächsten Morgen brachte ich ihn zum Zug. Er winkte mir mit einem weißen Taschentuch, und ich sah ihm nach, bis das Tuch nur noch die Größe eines Fliegenkleckses hatte.

Nicht viele Menschen haben das Glück, irgendwann ihrem Traum zu begegnen. Der Maler wußte das. Als er aus dem Zug stieg, um zum Schiff zu gehen, das ihn auf die Insel bringen sollte, da war er so aufgeregt, daß sich seine Finger schmerzhaft um die Koffergriffe verkrampften.

Und dann stand er vor dem Meer, und alle Worte, alle Gedanken wurden still in ihm.
Das Wasser reichte bis an den Rand des Himmels. Es rollte in Wellen heran, leckte über den Sand und zog sich wieder zurück. Die Wellen hatten weiße Kämme, und sie summten eine Melodie, die den Maler mitten ins Herz traf.

Auf der Insel mietete er sich ein billiges Zimmer. Es war klein, nicht sehr sauber und hatte bucklige Wände. Ein Bett stand darin, ein Tisch, ein Stuhl und ein Schrank, sonst nichts. Die Holzdielen knarrten und ächzten, sobald man den Fuß auf sie setzte. Der Spiegel über dem Waschbecken war blind und hatte Spinnwebsprünge. Aber vom Fenster aus konnte der Maler das Wasser sehen. Und es war, als gäbe es nur noch ihn und das Meer und die neue Melodie in seinem Kopf.

Der Maler wanderte umher, Tag für Tag, eine Umhängetasche mit Zeichenblock und Stiften über der Schulter. Er zeichnete, was ihm vor die Augen kam, gleichgültig, ob es regnete oder die Sonne schien, und manchmal waren seine Finger kaum schnell genug für all das, was hier auf ihn gewartet hatte und nun auf ihn einstürmte, Bild für Bild.

Er zeichnete das Meer, das immer anders war, mal grau, mal blau, mal grün und mal wie mit Silber bestäubt, eben noch wild und aufgewühlt, ein einziges fauchendes Tosen, dann wieder glatt und friedlich wie die Wachstuchdecke daheim auf seinem Tisch. Er zeichnete Ebbe und Flut, zeichnete die Buhnen, die schiefen Häuschen mit ihren blinkenden Fensterchen unter den Mützen aus übermoostem Ried, die Rosen, die an den Mauern emporkletterten, die Muscheln, den Tang, der mit dem Flutsaum wehte, die Dünen, das Schilf und den blassen Flieder am Strand.

Er zeichnete die Fischkutter im Hafen, die Fähren draußen und an der Anlegestelle. Er zeichnete die Traktoren auf den Feldern, das Gewimmel hungrig kreischender Möwen auf den frisch gepflügten Äckern, die Krabbenfischer beim Flicken der Netze, die Alten im Gespräch an den Zäunen und die rätselhaften Spuren im Watt. Er zeichnete die Kühe auf den Weiden, die Schafe auf dem Deich, die Abwassergräben, die das Land durchschnitten und den zerrissenen Himmel spiegelten, die Scheunen und Ställe und die mächtigen Heuballen auf den Wiesen. Er zeichnete die Bauern bei der Arbeit, die Misthaufen vor den Höfen und die Hühner, die sich emsig Kuhlen scharrten.

In aller Frühe, noch bevor das Licht erwacht war, stand er auf und zeichnete, bis das Licht den Tag wieder verließ.

Bald kannten ihn die Leute auf der Insel, und der Maler kannte sie. Es war ein gutes Leben.

Sie setzten sich zu einem Glas Wein oder einer Tasse Tee zusammen, tagsüber in den schläfrig duftenden Gärten, abends in den hitzeglühenden Stuben, und der Maler zog einen Stift aus der Tasche, zeichnete die wettergegerbten, verwitterten Gesichter, das Lachen, das Schweigen und was er sonst noch fand.

Wenn sie die Zeichnungen sehen wollten, zeigte er sie ihnen. Sie schauten sie lange und nachdenklich an und nickten. Niemand hier war ein Freund großer Worte.
Aber das Geld, das der Maler gespart hatte, wurde weniger und weniger, so genügsam er auch lebte. Seine Zimmerwirtin kaufte ihm eine Zeichnung ab, ebenso der Briefträger und die Kellnerin des kleinen Lokals, in das er manchmal einkehrte. Das schenkte ihm einige weitere Wochen auf der Insel. Dann jedoch mußte der Maler wieder zurück in die Stadt. Das Geld war verbraucht.

Er brachte einen Stapel Zeichnungen mit, eine Handvoll Steine, ein Säckchen Muscheln, eine Tüte mit weißem Sand, und sein Kopf war voll von ungemalten Bildern. Der Maler packte die Koffer aus, setzte sich an die Staffelei und malte seine Erinnerung.

Auf seinem schönsten Bild sah man das Meer und auf einer Klippe ein kleines, in einen blühenden Garten gekauertes Riedhaubenhaus, an dem Efeu und Rosen rankten. Der Maler hängte es über sein Bett. Er hielt es für das beste Bild, das er je gemalt hatte. Und jedesmal, wenn jemand es kaufen wollte, schüttelte er nur stumm den Kopf.

Es ist schwer zu sagen, was so besonders war an diesem Bild. Man spürte es einfach, wenn man es ansah. Es hatte ein wundervolles Licht, das sich unentwegt leise zu verändern schien, genau wie das Meer. Es gab nicht einen Tag, an dem das Bild war wie am Tag zuvor.

Die Zeit verging. Wieder meldete sich heftig die Sehnsucht in dem Maler. Aber weil es ihm nur selten gelang, ein Bild zu verkaufen, hatte er kein Geld und nichts mehr, das er zu Geld machen konnte. Vor allem aber war er jetzt schon sehr alt. Zu alt, um noch die Anstrengungen einer Reise auf sich zu nehmen.

„Es war ein Fehler, in die Stadt zurückzukommen“, sagte er manchmal zu mir. „Ich hätte das alles bedenken müssen.“ Dann lächelte er. „Aber ich will mich nicht beklagen. Ich habe das Meer gesehen. Und ich habe es gemalt.“

Eines Nachmittags saß er, wie schon so oft, vor seinem Lieblingsbild, dem einzigen übrigens, das in seinem Zimmer hing, und betrachtete es.

Zuerst bemerkte er es nicht. Dann dachte er, seine Augen spielten ihm einen Streich. Doch als er noch einmal ganz genau hinschaute, sah er, daß es keine Täuschung war. Die Tür des kleinen Hauses hatte sich einen Spaltbreit geöffnet.

Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. Die Tür öffnete sich noch ein wenig weiter, und als der Maler hineinspähte, sah er eine gemütliche Stube und in ihrer Mitte eine Staffelei.

Etwas zwang ihn, aufzustehen, auf das Bild zuzugehen und auf die nun weit geöffnete Tür.
Das Bild ließ ihn ein.

Der Maler wunderte sich nicht einmal darüber, daß so etwas möglich war. Er trat in die Stube, als müsse das so sein, und setzte sich an die Staffelei.

Nachmittag für Nachmittag verließ der Maler nun die Stadt, um in das Bild zu gehen. Er spazierte am Strand entlang, hob Steine auf und Treibgut, das angeschwemmt worden war. Er setzte sich auf die Gartenbank und blickte auf das Rosarot der Malven, das sanfte Gelb der Ringelblumen und das tiefe Blau des Eisenhuts. Er atmete den Duft von Lavendel, Zitronenmelisse und Thymian. Staub wölkte unter seinen Schritten, denn auf dem Bild war immer Sommer.

Vorm Einschlafen versenkte er sich in den Anblick der Muster, die das Mondlicht auf den Holzfußboden malte. Er hörte dem Rauschen des Regens zu und dem Raunen der Wellen. Er schlief tief und fest, und erst gegen Morgen kehrte er in die Stadt zurück.
So ging das eine Weile. Bis der Maler eines Morgens beschloß, nicht mehr in die Stadt zurückzukehren.

Das Bild hängt heute im Museum unserer Stadt. Die Leute stehen davor und bewundern es. Sie sehen das Meer, den Garten, das kleine Haus, und die Tür des Hauses ist geschlossen.
Nur für mich öffnet sie sich ab und zu. An den leider viel zu seltenen Tagen, an denen außer mir kein anderer Besucher im Museum ist.

Es erschreckt mich längst nicht mehr. Mein Freund, der Maler, lädt mich zu einer Tasse Tee ein und plaudert mit mir über dies und das. Manchmal, wenn das Wetter besonders schön ist und das Licht der Sonne mild, spazieren wir am Strand entlang, tauchen die Füße ins Wasser und trocknen sie später im warmen Sand.

Wenn ich ihn wieder verlassen muß, steht mein Freund am Gartentor und winkt mir nach. Seine Kleidung ist zerschlissen, sein inzwischen schneeweißer Bart zu lang. Aber auf seinem Gesicht liegt ein glückliches Lächeln.

Zurück