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lockvoge.jpg (59924 Byte) Lockvogel flieg

Jetzt neu: Herz geklaut

 

Als ich zwölf wurde, wurde Großvater siebzig. Wir haben beide am selben Tag Geburtstag, am zehnten Juni, wir sind also Zwillinge. Keine richtigen natürlich, aber vom Sternzeichen her. Meine Mutter, die an so was glaubt, behauptet, in einer Familie mit Zwillingen könne nur das absolute Chaos herrschen, weil der eine Zwilling nie weiß, was der andere tut, und bei gleich zwei Zwillingen (einmal Großvater, einmal ich) sowieso keiner mehr den Überblick hat.

Mit dem Chaos hat sie Recht, aber ich glaube nicht, dass es an Großvater und mir liegt. Das Chaos ist unserer Familie angeboren. Wir brauchen es, wie andere die Luft zum Atmen. Wenn es mal still ist in unserm Haus, dann ist das ein sicheres Zeichen für eine schleichende Katastrophe. Irgendwas stimmt dann nicht, irgendwas braut sich zusammen. Wie damals, als meine Mutter mit Tris schwanger war und die Wehen zu früh einsetzten und alle außer mir unterwegs waren. Aber das ist eine andere Geschichte.

Großvater wurde also siebzig und weil das ein besonderer Geburtstag ist, sollte er mit allem Pomp und Trara gefeiert werden. Und weil ich nun mal gleichzeitig zwölf wurde und wir unsere Geburtstage immer gemeinsam feiern, bekam ich von dem Pomp und Trara ein dickes Stück ab. Sehr zum Ärger von Henri, die grundsätzlich der Meinung ist, sie käme zu kurz.

Ihr häufigster Ausruf ist: „Das ist ungerecht!“ Andere Kinder sagen, wenn sie anfangen zu sprechen, zuerst Mama, dann Papa. Henri sagte als Erstes nein und das war nur ein anderes Wort für ungerecht.

Na ja, sie heulte und schrie und stampfte mit dem Fuß auf, weil sie auch mit Großvater Geburtstag feiern wollte, und als das nichts nützte, zog sie sich für ein paar Stunden in ihren Schmollwinkel zurück, die Vorratskammer. Als sie wieder herauskam, waren ihre Augen geschwollen, ihre Lippen schokoladenverschmiert und prompt fing Tris an zu brüllen, weil er auch Schokolade wollte, und meine Mutter brühte sich einen starken Kaffee auf und warf uns alle kurzerhand aus der Küche.

Damals wohnte Freddie noch bei uns. Er nahm uns mit in die Eisdiele, wo er mit Ilona verabredet war, und spendierte uns ein Eis.

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