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fee.jpg (27038 Byte)Als die Farben verboten wurden

Zwischen den Bergen und dem Meer gibt es ein Land, in dem regierte vor langer Zeit ein alter Präsident. Er war kein Kaiser und kein König und hatte auch keine Krone, aber er war viel mächtiger als jeder Kaiser und jeder König.

Viele der Präsidenten vor ihm waren keine guten Präsidenten gewesen. Sie hatten das Geld und das, was sie damit kaufen konnten, für wichtiger gehalten als die Menschen in ihrem Land. Und die Menschen hatten ihnen geglaubt und sich selbst für unwichtig gehalten. Dieser Präsident aber war anders, und er veränderte alles. Er wollte nicht der Reichste sein und nicht der Vornehmste. Er hatte es gern, wenn die Menschen lachten, und er wollte, daß jeder glücklich war.

In seinem Wagen fuhr er oft durch die Straßen und Gassen der Orte. „Nur wenn ich weiß, wie es aussieht im Land“, sagte er zu den Ministern, „kann ich die richtigen Entscheidungen treffen.“

Der Präsident winkte den Menschen zu, und die Menschen winkten zurück. Manchmal stieg er auch aus, um sich eine Weile mit ihnen zu unterhalten. „Nur wenn ich weiß, was die Menschen denken“, sagte er zu den Ministern, „kann ich die richtigen Entscheidungen treffen.“

In den Straßen wimmelte es von bunten Kleidern, Hosen, Röcken, Tüchern und Hüten. Sogar die Häuser waren bunt bemalt. Wie riesige Blumen oder Schmetterlinge sahen sie aus, und der Präsident betrachtete sie, hörte das Lachen der Kinder in den Gärten und freute sich. „Ein farbenfrohes Land ist ein glückliches Land“, sagte er, und die Minister nickten.

Als der Präsident starb, kam ein neuer an die Macht. Eigentlich hätten die Menschen im Land ihn wählen müssen. Aber er war wohlhabend und einflußreich und hatte wohlhabende und einflußreiche Freunde, die durch ihn noch wohlhabender und einflußreicher werden wollten. Das nutzte er aus und machte sich einfach selbst zum Präsidenten.

Die Minister wußten, dass das nicht richtig war. Aber sie waren nicht sehr mutig. Und sie wollten Minister bleiben. Sie schwiegen und nickten zu allem, wie sie schon immer zu allem genickt hatten.

Der neue Präsident war jünger als der alte. Er hatte jedoch auch sonst keine Ähnlichkeit mit ihm. Herrschsüchtig war er, eitel und boshaft. Und er wollte alles Schöne für sich allein. Zuerst ließ er sich von den berühmtesten Baumeistern ein prunkvolles Schloß mit siebenundneunzig schneeweißen Türmen und Türmchen bauen. Dann ließ er sich von den besten Schneidern Hunderte von Anzügen, Pantinen und Schlafröcken nähen. Er trug gepuderte Perücken und behängte sich mit Pelzen und Orden, die er sich selbst verliehen hatte. Er gab Feste für seine Freunde, bei denen bis in die Nacht hinein gesungen, getanzt, gelacht und geschlemmt wurde. Als er alles hatte, was er sich nur wünschen konnte, ließ er sich eine goldene Kutsche anfertigen, in der er umherfuhr, um sich zu zeigen.

All das konnte er nicht mit seinem eigenen Geld bezahlen. Er nahm dafür den Menschen fast alles ab, was sie besaßen. Sie mußten hohe Steuern zahlen und behielten kaum etwas für sich zurück. Die Familien waren froh, wenn sie sich wenigstens an den Sonntagen noch eine gute Mahlzeit leisten konnten.

Niemand stand jetzt mehr am Straßenrand, um dem Präsidenten zu winken, wenn er in seiner Kutsche vorüberfuhr. Niemand bewunderte ihn, und niemand brachte ihm Geschenke, wie es beim alten Präsidenten oft vorgekommen war. Selbst wenn sie es gewollt hätten - die Menschen waren arm geworden und konnten keine Geschenke mehr machen.

Das ärgerte den Präsidenten, und er überlegte, wie er die Menschen dafür bestrafen könnte, daß sie ihn nicht mochten. Er befahl, daß sich von nun an alle schwarz anziehen sollten, sogar die Minister. Keiner sollte so prächtig gekleidet sein wie er. Dann befahl er, alle Häuser grau anzustreichen und sämtliche Bilder daraus zu entfernen. Keiner sollte so prächtig leben wie er. „Ab heute“, sagte er, „sind alle Farben verboten.“ Die Minister senkten die Köpfe und nickten.

Bald huschten die Menschen wie Schatten umher. Man sah nichts als Schwarz und Grau und Grau und Schwarz. Nur hin und wieder bewegte sich etwas Glitzerndes durch das trostlose Einerlei, und das war der Präsident in seiner Kutsche.

Es wurde gemurrt. „Wir müssen uns wehren“, flüsterte der eine. „Der Präsident muß weg“, raunte der andere. Doch jeder, der an einen Aufstand auch nur dachte, wurde verhaftet. Die Gefängnisse waren schon überfüllt. Der Präsident ließ neue bauen. Reisende aus Ländern, in denen die Farben nicht verboten waren, wurden an den Grenzen zurückgeschickt. Niemand durfte in das Land hinein, und niemand, der im Land lebte, durfte hinaus.

Im Innern der Menschen wurde es ebenso grau, wie es in den Städten und Dörfern war. Gebückt schlichen sie über die Straßen und Wege, auf denen kein Lachen mehr zu hören war.
Anfangs hatten sie noch manchmal in Gruppen zusammengestanden und miteinander getuschelt. Jetzt wagte keiner mehr auszusprechen, was er dachte. Es war, als hätten die Mauern und Wände Ohren. Sobald einer aufmuckte, erschienen die Soldaten und schleppten ihn fort. Und so verstummten die Menschen allmählich ganz.

Aber der Präsident war immer noch nicht zufrieden. Da waren noch die Blumen, die Sträucher und die Bäume, an denen die Menschen sich erfreuen konnten. Er ließ alles ausrupfen, ausgraben und absägen, was blühte und bunt war. Nur der Park um sein schneeweißes Schloß blieb ein einziges Farbenmeer. Eine hohe Mauer versperrte die Sicht hinein, und wenn es einem gelang, auf die Mauer zu klettern, um einen sehnsüchtigen Blick hineinzuwerfen, ergriffen ihn die Soldaten und sperrten ihn ein.

Je trauriger und bedrückter die Menschen wurden, desto heiterer wurde der Präsident. Seine Feste dauerten jetzt bis in die Morgenstunden hinein, und je stiller es auf den Straßen wurde, desto lauter klang das Gelächter aus seinem Schloß.

Was der Präsident jedoch nicht zerstören konnte, waren die Regenbogen. Nach jedem Regen, auf den Sonnenschein folgte, liefen die Menschen aus ihren Häusern, um nach einem Regenbogen Ausschau zu halten. Und dann sangen und tanzten sie unterm Regenbogen, sahen sich satt an seinen Farben, und es war beinah wie früher. In diesen Augenblicken vergaßen sie den Präsidenten, die Soldaten und sogar die Angst.

„Regenbogen sind bunt!“ brüllte der Präsident und stampfte mit dem Fuß auf. „Ein buntes Land ist ein glückliches Land! In diesem Land soll aber keiner glücklich sein außer mir!“ Er rief die Gelehrten zu sich. „Gegen die Regenbogen“, sagten die Gelehrten, „sind wir machtlos, leider.“ Kaum hatten sie es ausgesprochen, da saßen sie auch schon im Gefängnis.
Der Präsident schritt zornig auf und ab, und sein pfirsichfarbener Seidenschlafrock schleifte ihm nach. „Dann brauche ich eben einen Zauber, der die Regenbogen vertreibt! Schafft mir einen her, der zaubern kann!“

Die Minister nickten. Einige von ihnen waren auch schon im Gefängnis verschwunden, und jeder konnte der nächste sein. Sie suchten das ganze Land ab. In einem kleinen Dorf am Meer fanden sie endlich eine alte Frau, von der die Leute behaupteten, daß sie eine Zauberin wäre.
Sie führten sie vor den Präsidenten. Der starrte die alte Frau finster an und sagte: „Ich gebe dir drei Tage Zeit und keine Minute länger.“

Die alte Frau schrieb die Namen von Kräutern auf ein Blatt Papier und sagte: „Die brauche ich für den Zauber.“ Sie lächelte, und die Minister nickten verwirrt. Was gab der Alten nur den Mut zu diesem Lächeln?

Die Kräuter wurden rasch herbeigeschafft. Ebenso einige Töpfe, Fläschchen und Mörser, um die die alte Frau gebeten hatte. Dann ließen die Minister sie allein.

Als die alte Frau wieder vor den Präsidenten geführt wurde, hielt sie ein Fläschchen in der Hand. Darin war ein blauer Saft. „Trinken Sie“, sagte die alte Frau und sah den Präsidenten fest an. Ihre Augen waren blau wie der Saft.

„Was ist das?“ fragte der Präsident, denn er war aus gutem Grund mißtrauisch.
„Trinken Sie“, wiederholte die alte Frau, „und Sie können die Farben der Regenbogen auslöschen. Es geschieht einfach durch die Kraft Ihrer Gedanken.“

Der Präsident leckte sich die Lippen, aber er zögerte noch. „Trink du zuerst davon“, sagte er. „Ich will sicher sein, daß du mir kein Gift zusammengebraut hast.“

Die alte Frau nahm einen Schluck, und der Präsident beobachtete sie genau. Als ihr nichts geschah, setzte er das Fläschchen an die Lippen und leerte es in einem Zug.

Es schüttelte ihn, dann wurde er blaß. Er blickte sich um. Aus den Gegenständen im Saal zogen sich die Farben zurück. Alles wurde grau und unscheinbar, der flauschige Samt des Sofas und der Sessel, die schweren Brokatvorhänge, die kostbaren Teppiche, die herrlichen Bilder an den Wänden. Die Ringe an den Fingern des Präsidenten und die Orden an seiner Brust funkelten und glänzten nicht mehr, das Holz der Möbel verlor seinen Schimmer. Alles ringsum wurde häßlich und matt, und die Blumen draußen im Park sahen aus, als wären sie aus Stroh.

Der Präsident würgte. Ihm war entsetzlich übel, und sein Herzschlag raste. Er läutete nach den Ministern. „Werft die Alte ins Gefängnis!“ schrie er. „Und da soll sie bleiben, bis sie, bis sie...“

„Aber ich bin die einzige, die das Gegenmittel kennt“, sagte die alte Frau ruhig und hielt ein zweites Fläschchen hoch. Es war mit einem grünen Saft gefüllt.

Der Präsident bebte vor Wut. Seine Augen wurden schmal. Er versuchte, nach dem Fläschchen zu greifen. Die alte Frau wich ihm aus. „Vorsicht“, sagte sie und lächelte. „Ich könnte es sonst fallen lassen.“

Mühsam beherrschte sich der Präsident.

„Das Gegenmittel“, sagte die alte Frau leise zu ihm, „wird allem die Farbe zurückgeben.“ Wieder lächelte sie. „Allerdings wird es Sie auch daran hindern, die Farben jemals wieder zu verbieten. Sobald Sie es versuchen, werden Sie daran ersticken.“

Der Präsident griff sich an den Hals. Er tobte, er heulte, er wimmerte, dann sank er auf das Sofa.

Er mußte niederschreiben, daß er die Farben wieder erlaubte, und er mußte niederschreiben, dass die Menschen im Land sich wieder selbst einen Präsidenten wählen durften. Der Präsident wußte, was das bedeutete: Niemand würde sich für ihn entscheiden. Er seufzte, setzte das Fläschchen an die Lippen und trank es langsam aus.

Die alte Frau sah ihm lächelnd zu. Ihr Leben lang hatte sie Kräuter gesammelt und ihre Kräfte studiert. Sie allein wußte, wie sie die Augen des Präsidenten getrübt hatte. In zwei, drei Stunden hätte die Wirkung des blauen Safts sowieso nachgelassen, und er hätte bemerkt, daß sie ihn getäuscht hatte.

Der neue Präsident ließ als erstes die Gefängnisse aufschließen. Dann ließ er die Minister zu sich kommen. „Bei uns soll es keine Gefangenen mehr geben“, sagte er. Die Minister nickten. Es half ihnen nichts. Sie wurden mit dem alten Präsidenten in einen Zug gesetzt und mußten das Land verlassen.

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